FIRST GERMAN HIGHJUMP TRAINING AREA

„Kochstraße, letzter Bahnhof in Berlin West!“ verkündet der Lautsprecher. Auf dem Bahnsteig treten Uniformierte einer Dreiergruppe in den Weg. „Papiere bitte!“ Einer aus der Gruppe ist Schwarzer - auch in der „Weltstadt“ Grund genug für eine derartige Aufforderung. Gehorsam beginnen die drei in ihren Taschen zu kramen, als ein älterer Polizist vor seine Kollegen tritt. „Nee lasst mal jut sein, ick sehe schon det is ein Ami.“ Die Uniformierten lassen Eddie, Dagmar und Onkel Karl in Ruhe und widmen sich stattdessen der überquellenden Einkaufstasche eines Rentners, der bei ihrem Anblick rasch den Bahnhof verlassen wollte.

Eddie, seit über einem Jahr in Berlin stationiert, kennt die Spielregeln noch nicht. „Was ist hier los?“ will er wissen. Das ist für Dagmar ein unangenehmes Thema, und sie erzählt ausweichend von der Friedrichstraße und den billigen Intershops. „Oh, das is clever! Die verkaufen West cigarettes an West-Berliner and they make a lot of West Geld“, versteht Eddie.

Onkel Karl ist da direkter. „Mr. Washington that is so many, many persons from other countries come here, Neger and Pakistanis yes; they say they are political and think that they will get money. - Mensch Dagmar übersetz doch mal. Erzähl ihm, daß wir die ganzen illegalen Asylanten hier nich haben wollen. Nüscht jegen Ausländer, aber det können wir uns beim besten Willen nich leisten - deshalb doch bloß die Kontrollen hier.“

An der Aussichtsplattform vor der Mauer herrscht Gedrängel. Umringt von einer Schulklasse aus Schwaben steigen die drei die Treppe hoch, und sie müssen sich gedulden, ehe sie den wie Karl ankündigt - „einmaligen Ost-West-Überblick“ ungestört genießen können. Eddie liest „You are leaving the“ - weiter kommt er nicht, denn Karl weist mit einer gebieterischen Geste nach links. „Det is also Scheckpoint Scharlie. Da müssen se auch rüber, Mister Washington, wenn se wirklich mal in die Zone wollen - into the East, yes. Aber det lohnt sich ja nich, wenn man keine Familie dort hat - die janzen Kontrollen.“ „Wo is Kontrolle? Die fahren einfach dursch“ wundert sich Eddie. „Na, weilse CeDe sind.“

„What's that, Tse Dey?“ Dagmar will erzählen, was es mit Diplomaten und ihren Grenzprivilegien auf sich hat - da schnaubt Onkel Karl dazwischen. „Was heißt hier CeDe, Export/Import müßte det janze Unternehmen heißen. Ick will ja nich wissen, was die im Kofferraum haben: Tausche Ölgemälde jegen Videoanlage. Der Ost-West-Handel blüht - da hilft keine Uniform und keine Mauer.“

Dagmar übersetzt. Eddie staunt über den glattrasierten Todesstreifen, die Flutlichter, die Wachtposten in den Türmen. „German perfectionism“, schnalzt er. „Was heißt hier deutsche Gründlichkeit“, meint Dagmar. Sie zeigt auf Grenzposten und Patrouillen auf beiden Seiten der Grenze. „Die Grenze ist mindestens dreifach bewacht. Werner hat mir erzählt, daß sich die Amis die besten Fensterplätze in den Häusern hier an der Mauer reserviert haben. Da sitzen sie Tag und Nacht dahinter mit Fernglas, Richtmikrophon und Walkie Talkie. Und drüben machen die Russen das gleiche.“

Da fängt Onkel Karl an zu lachen. „Look - seht mal, wo die da drüben im Wachturm ihre Ferngläser hinhalten.“ Tatsache: schwarze Stilaugen folgen den platinblondierten Engländerinnen, die gerade die Straße vor dem Checkpoint überqueren. „Kommt“, schlägt Onkel Karl vor, „wir gehen näher ran an die Mauer - more closely, yes.“

„Bitte sehr“, verkündet Dagmar in feierlichem Ton, „es ist soweit - you get to TOUCH THE WALL.“ Eddie leckt an seinem Zeigefinger, preßt ihn gegen den Beton und macht „Tssss“. „Wow, this is a hot spot, ain't it!“ „Genau!“ Onkel Karl gerät ins Schwärmen. „Weltgeschichte wurde hier gemacht. Wat ham wa hier früher alles hin- und hergeschoben. Als dann über Nacht der Stacheldraht jezogen wurde, dachte die janze Welt, jetzt wirds zappenduster. Aber wir ham weiterjemacht; jetzt summt die halbe Stadt so laut wie vorher die janze.“ Er wirft sich in die Brust. „Mister Washington, ick bin ein Berliner!“ Eddie hat derweil das Gekrakel auf der Mauer betrachtet. „Nice graffiti, but these sprayers should come to New York for some lessons!“ Karl meint, das müßten eh alles Amis sein, sonst würden sie nicht auf Englisch die Mauer beschmieren. „First German high jump training area“, liest er. „Ick kann det einfach nich schön inden.“ Zwei Amis in karierten Hosen und grünen Anoraks kommen den dreien entgegen - was die zu sagen haben, läßt Dagmar aufstöhnen. „How did the Russians get East Germany?“ Aber die Frage interessiert auch Eddie. „Yeah, why did we give it to them?“ Ignoranz dieses Kalibers kitzelt den Schulmeister in Onkel Karl. Doch mit seiner Nachhilfestunde kommt er nicht weit. „You say the Commies were our allies?“ Eddie will das einfach nicht glauben. „Der Junge muß Geschichte lernen“, beschließt Onkel Karl und schlägt das nächste Ausflugsziel vor: das Haus am Checkpoint Charlie. „Ohne mich“, meckert Dagmar. „Mich kriegst du in diesen Bunker nicht rein - da hab ich mich schon immer geweigert.“ Doch Onkel Karl überredet sie. „Für deinen Bekannten ist das genau das richtige - außerdem ist da auch alles auf englisch beschrieben.“

„Mist“, flucht Dagmar als sie das Mauermuseum betreten, „das kostet auch noch Eintritt!“ „Ja meine Herrschaften“, werden sie aufgeklärt, „dies ist ein gemeinnütziger Verein, der für seine humanitären Ziele Öffentlichkeitsarbeit betreibt... Schulklassen, Reisegruppen, Touristen aus aller Welt... über tausend Besucher täglich.“ „Das Unternehmen scheint ja ordentlich wat abzuwerfen“, kommentiert Onkel Karl. Die Dame an der Kasse ist gekränkt. „Aber mein Herr, mit den Einnahmen unterstützen wir Flüchtlinge!“ „Zweifellos“, murmelt Dagmar.

Die Geschichte der Mauer seit dem 13.August 1961 wird angekündigt. Doch zu sehen sind Bilderstories: Sensationsphotos, Augenzeugenberichte, Fluchtfahrzeuge, Triumph und Tod. An der Wand eine groß aufgeblasene Karte von Berlin - die Mauer springt dreidimensional aus dem Bild heraus. Aufgemalte schwarze Kreuze sind ebensowenig zu übersehen, wie die hüben und drüben der Mauer eingezeichneten Truppen.

„Das bin isch“, deutet Eddie auf einen der stilisierten GIs, „aber die drüben haben noch mehr.“ Wirklich, Berlin ist umzingelt: Grenztruppen, Volksarmee, Kampftruppen der Betriebe, Sowjetarmee lauern hinter der Mauer, jederzeit bereit zum Angriff auf die westliche Freiheit. „Da ist ja sogar eine Reliquie, ein Kreuzsplitter - Dagmar zeigt auf einen winzigen Fetzen hinter Plexiglas. Angeblich stammt der von der roten Fahne, die SBZ-Arbeiter am 17.Juni vom Brandenburger Tor gerissen haben. „Menschenunwürdig ist das!“ gibt Onkel Karl laut seine Meinung kund. „Die Grenze hat nur ein gutes, sie macht den Mensch erfinderisch.“ Flucht durch den Gulli, über den Friedhof, Tunnel 28, Tunnel 57, gefährlicher Sprung aus dem Fenster - „die setzen ihr Leben für die Freiheit aufs Spiel, das ist doch was!“

Dagmar denkt anders. „Dieser Fluchthelferkult, der hier getrieben wird, ist zum Kotzen. Als ob das aus Idealismus geschieht - da lockt doch die Mark.“ „Det is aber trotzdem ne noble Aufgabe. Solln die doch drüben die Grenze aufmachen und alle rauslassen.“ Das letzte hatte Eddie gehört. „Vorhin hast du gesagt, die Ausländer sollen zu Hause bleiben“, übersetzt Dagmar seine Frage. Onkel Karl winkt ab. Det hier is doch wat janz anderes; det sind hier doch alles Deutsche! We are one contry, yes!“

Am Ausgang herrscht Gedränge. Auch Eddie kauft sich eine Postkartenserie mit Mauermotiven. „For mein kleine Brüder, so they know what I'm doing for them.“ Dagmar fragt sich, was die wohl denken werden. „Gänsefleisch weitergehen!“ werden die drei aufgefordert. „Gänsefleisch deutsch lernen“, meckert Onkel Karl zurück. „Det is ja wie im KaDeWe, vor den Sachsen ist man sich nirgends mehr sicher.“ „East Germans“, erklärt Dagmar. „Was machen die hier? Are they celebrating their escape?“ will Eddie wissen. „Das Museum hat ja prima gewirkt“, murmelt Dagmar leise.

Neben dem Ausgang hängt noch eine letzte Spendenbox - halb gefüllt mit Silbergeld und Scheinen in- und ausländischer Herkunft. „Moment mal!“, Dagmar kramt in ihrer Jackentasche, fördert drei Ostmark zutage und wirft diese durch den Schlitz. „Für die Fluchthelfer“, kommentiert sie.

Nach dem Kalten Krieg tut warmer Kaffee gut. Marmortischchen, Zeitungsleser, hohe Spiegel, Provinzeltern mit ihren Berliner Kindern: Cafe Einstein. Eddie folgt Onkel Karls Ausdeutungen der höheren Weltpolitik und Dagmars mäßigenden Erläuterungen nur noch mit halbem Ohr. Er denkt an die selbstgebauten U-Boote, die Tunnel, die gepanzerten Autos aus dem Mauermuseum, an den elektrischen Stacheldraht und die Selbstschußanlagen. „Wow“, gerät er ins Schwärmen. „das alles muß sein in Disneyland. Just like the Jungle Cruise, wo die Alligators aus Plastik nach die Leute schnappen. What a great ride that would be!“ „Drei Kaffee“, bestellt Onkel Karl.

Der befrackte Kellner reagiet mit einem leicht angewiderten Gesichtsausdruck. „Ich bring Ihnen die Karte.“ „Verlängerter, Einspänner, kleiner Brauner“, liest Onkel Karl. „Is det hier ein Pferdestall oder ein Lokal - einfach Kaffee gibt's wohl nicht.“ Aber Karl ist schließlich Weltbürger. „Dreimal Melange mit Strudel von Apfel“, bestellt er, als der Ober endlich wieder auftaucht.

Draußen schüttelt er sich. „Also nee, denn lieber inne Eckkneipe in Pankow als sowas hier. Da brauchste ja für die Bestellung schon Abitur.“ „Für die deutsche Einheit besteht noch Hoffnung“, denkt Dagmar ganz still für sich.

Tina Glitz / Klaus Omda