piwik no script img

Hormon-Pate: angeklagt und unbehelligt

Sieben Jahre lang ermittelte der Staatsanwalt gegen Großmäster Wigger / 610 verschwundene Kälber wieder da / Grüne werfen Matthiesen „politische Komplizenschaft“ vor / Praktiken in der Kälbermast als „Systemfehler“ einer industrialisierten Landwirtschaft  ■  Aus Düsseldorf J. Nitschmann

Die Staatsanwaltschaft hat gegen den Südlohner Kälbergroßmäster Bernhard Wigger (56) bereits 1985 beim Landgericht Münster Anklage wegen krimineller Mastmethoden erhoben. Wigger gehört neben Felix Hying zu den Hauptverdächtigen im nordrhein-westfälischen Hormonskandal.

Wie der Sprecher des Landgerichts Münster, Thomas Vogt, gegenüber der taz am Montag erklärte, ist gegen Wigger vor der zuständigen Wirtschaftsstrafkammer seit fast drei Jahren ein Strafverfahren wegen Verstosses gegen das Arzneimittelgesetz und wegen Steuerhinterziehung anhängig. Noch am Montag hatte Umweltminister Matthiesen in der 'Welt‘ erklärt, er habe den Namen Wigger nicht ins Spiel gebracht. Es handele sich „um einen Verdacht, mehr nicht“. Die Anklage von 1985 sei, so Vogt, von der XII.Großen Strafkammer jedoch bis zum heutigen Tage nicht zur Hauptverhandlung zugelassen worden. Für den ungewöhnlich langen Zeitraum von der Anklageerhebung bis zum Beschluß über die Eröffnung der Hauptverhandlung machte der Gerichtssprecher neben der „Überlastung“ der zuständigen Wirtschaftskammer vor allem „die sehr komplizierte und rechtlich ziemlich problematische Anklage“ verantwortlich.

Nach den Ermittlungen der Staatsanwaltschaft, die seit 1981 gegen Wigger laufen, soll der ins Zwielicht geratene Kälbergroßmäster spätestens seit 1976 in der Tierbehandlung zulässige Arzneimittel wie etwa Antibiotika, Sulfonamiode und andere Chemotherapeutika „in zum Teil erheblichen Überdosen“ seinen Futtermitteln beigemischt haben. Die Futtermittel des Kälber-Multis Wigger sind laut Anklage zum Teil in solchen Mengen mit Chemotherapeutika versetzt gewesen, daß sie als Arzneimittel - also erheblich höher hätten versteuert werden müssen.

Seit dem Wochenende hat die Staatsanwaltschaft Münster, ausgelöst durch den nordrhein-westfälischen Hormonskandal, ein Fortsetzung auf Seite 2

FORTSETZUNG VON SEITE 1

weiteres Ermittlungsverfahren gegen den Südlohner Kalbgroßmäster eingeleitet. Wigger soll bundesweit rund 60.000 Kälber besitzen. Sein Jahresumsatz wird auf rund 100 Millionen Mark geschätzt. Konkret wird Wigger verdächtigt, das in der Branche als „Hustensaft“ bekannte Arzneimittel Clenbuterol mit anderen Wachstumshormonen kombiniert und ins Futter gemischt zu haben. Nach Angaben des Düsseldorfer Landwirtschaftsministeriums werden die Untersuchungen über mögliche Rückstände dieser Wachstumshormone nicht vor Mitte dieser Woche abgeschlossen sein. Die Chemiefirma Boehringer hatte sich am Wochenende zur Mitarbeit an den Untersuchungen der schwer nachweisbaren Substanzen bereit erklärt.

Staatsanwalt Klaus Deupmann erklärte am Montag gegenüber der taz, im Gegensatz zu dem aus Oelde stammenden Kälbergroßmäster Hying bestehe bei Wigger keinerlei Verdunkelungs- oder Fluchtgefahr. Deshalb habe seine Behörde bislang keinen Haftbefehl gegen ihn beantragt. Im übrigen habe sich der Südlohner Kälbermulti bei den laufenden Ermittlungen kooperativ gezeigt. Die bei seinen Mastkälbern festgestellten Einstiche stammen laut Wigger von einer Grippe-Schutzimpfung.

Die 610 hormonverseuchten Kälber, die in der vergangenen Woche aus den beschlagnahmten Beständen des Großmästers Hying herausgegschmuggelt worden waren, sind am Montag von der Polizei wiederaufgefunden worden. Wie ein Sprecher des Kreises Borken erklärte, sei rund die Hälfte der Tiere lebend auf einem Bauernhof entdeckt worden, der Rest auf verschiedenen Schlachthöfen im deutsch-niederländischen Grenzgebiet.

Unterdessen haben die nordrhein-westfälischen Grünen dem Düsseldorfer Landwirtschaftsminister Klaus Matthiesen (SPD) politische „Komplizenschaft“ mit den kriminellen Kälbermästern vorgeworfen. „Die politischen Komplizen dieser Leute sitzen in den Chefetagen der Agrarbehörden und Ministerien. Politisch gesehen ist auch Minister Matthiesen ein Komplize der Herren Hying und Wigger“, sagte der Sprecher der Landesarbeitsgemeinschaft Agrarpolitik bei den NRW-Grünen, Siegfried Martsch, am Montag in Düsseldorf. Politiker wie Matthiesen hätten es „wissentlich in Kauf genommen und politisch sogar gefördert“, daß die bäuerliche Landwirtschaft in eine regelrechte Industrie überführt worden sei.

Bei den Kälbermästern gehe es nicht um einige schwarze Schafe oder um eine Mafia, hier trete vielmehr ein Skandal zu Tage, der im System der Kälbermast begründet sei, sagte Martsch. Nach den Berechnungen der Landwirtschaftskammer Westfalen-Lippe liege die Gewinnspanne aufgrund der erheblich angestiegenen Preise beim Milchpulver gegenwärtig pro Kalb bei gerade noch 84 Pfennig! Leute wie Hying hätten deshalb „zwar kriminell, aber betriebswirtschaftlich nur konsequent gehandelt“.

Nach Auffassung der NRW-Grünen ist der Fleischskandal längst nicht alleine auf die Kälbermäster beschränkt. „Es ist schon heute der Tag absehbar, wo der Skandal bei der Schweinemast auf den Tisch kommt“, sagte Martsch.

Die Grünen forderten eine flächengebundene Bestandsobergrenze und die Einführung eines gestaffelten Erzeugerpreises, bei dem artgerechte und umweltfreundliche Tierhaltung honoriert werden müsse. „Statt der von Minister Matthiesen angeordneten Schlachtung der hormonverseuchten Kälber ist vielmehr die Schlachtung bisheriger heiliger Kühe in der Agrarpolitik notwendig“, erklärte das Landesvorstandsmitglied der NRW-Grünen, Harry Kunz. Mit der EG-weiten Zulassung des gentechnologisch hergestellten Rinderwachstums-Hormons Somatotropin stehe außerdem „ein neuer Anschlag auf die Gesundheit der VerbraucherInnen“ unmittelbar bevor. Angesichts des europäischen Milchsees widerspreche die geplante Zulassung des Hormons zur Erhöhung der Milchproduktion jeder Vernunft, sagte Kunz.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen