Das erste Dorf in Rumänien ist dem Erdboden gleichgemacht

Istvan Szent-Ivanyi, Gründungsmitglied des ungarischen Asylkomitees für Rumänienflüchtlinge, berichtet über die Situation der Flüchtlinge  ■ I N T E R V I I E W

taz: Sie arbeiten bei „Menedek Bizottsag“, dem oppositionellen Flüchtlingskomitee in Budapest, das sich im Januar diesen Jahres formiert hat, um Flüchtlingen aus Rumänien zu helfen. Wieviele sind bisher in Ungarn eingetroffen?

Istvan Szent-Ivanyi: Es sind rund 20.000 nach Ungarn gekommen - 12.000 davon in den letzten Monaten. Sie gehören zu 90 Prozent der ungarischen Minderheit in Rumänien an. Es kommen aber auch vermehrt Siebenbürger-Sachsen und Rumänen an die 2.000 dürften es nach unseren Schätzungen sein.

Können Sie etwas zur aktuellen Situation in Rumänien berichten?

Die letzte Nachricht ist, daß eines der Dörfer der ungarischen Minderheit, das Dorf Ditro, am 16.August dem Erdboden gleichgemacht wurde. Das stand auch in der rumänischen Presse. Außerdem wurde die Zerstörung eines Nachbardorfes angekündigt. Fast gleichzeitig hat der Flüchtlingsstrom einen traurigen Rekord erzielt - an einem einzigen Tag kamen 105 Menschen. Neuerdings kommen sie ohne Paß und ohne Aufenthaltserlaubnis über die Grenze. Ich vermute, daß die Sicherheitskräfte jetzt die Anweisung haben, sie einfach durchzulassen. Zuvor war es - nach unserer Information - mehrfach zu Schießereien gekommen. Zuletzt ist auf ungarischem Boden eine junge Frau getötet worden.

Was sind das für Leute, die bei Ihnen ankommen?

Zwei Drittel von ihnen sind Städter, weitere 20 Prozent Intellektuelle. Es kommen sehr wenige Bauern. Und fast alle sind zwischen 20 und 40 Jahre alt.

Warum flüchten sie aus Rumänien?

Am meisten leiden die Menschen unter dem Staatsterror und dem Sicherheitsdienst. Natürlich spielt auch der drohende ökonomische Zusammenbruch eine Rolle. Obwohl die Mehrheit der Flüchtlinge aus den Städten kommt, haben die Menschen jetzt, wo Ceaucescu offensichtlich Ernst machen will mit dem Dorfzerstörungsprogramm, noch mehr Angst. Die Flüchtlinge sind oft in einer furchtbaren Verfassung. Ihr physischer Zustand ist alarmierend. Zwei Drittel von ihnen sind krank, ein Teil kommt vor allem, um ärztliche Hilfe zu erhalten. Das traurigste ist, daß viele auch in schlechtem psychischen Zustand sind. Manche haben Verfolgungswahn, sind mißtrauisch, vermuten selbst überall in Budapest, bespitzelt zu werden.

Welchen Status haben diese Flüchtlinge in Ungarn?

Das ist ein großes Problem. Im Moment haben sie nur eine provisorische Aufenthaltsgenehmigung, die man auf ein Jahr verlängern kann. Danach müssen sie erneut eine ständige Aufenthaltsgenehmigung beantragen - die Staatsbügerschaft erhalten sie vorerst nicht. Nur etwa die Hälfte der ungarischen Flüchtlinge möchte in Ungarn bleiben - die anderen wollen weiterreisen, genau wie fast alle rumänischen und sächsischen Flüchtlinge. Doch bisher hat die ungarische Regierung niemanden weiterreisen lassen. Sie hofft darauf, daß die Verhältnisse noch einmal „besser“ werden und möchte, daß die Angehörigen der Minderheit dann nach Rumänien zurückkehren. Hier muß ich die Politik der ungarischen Regierung kritisieren. Wir haben bisher immer gefordert, den Menschen doch die Weiterreise zu gestatten - vergeblich.

Findet ihre unabhängige Organisation Unterstützung in Ungarn?

Wir haben viele freiwillige Helfer, viele Ärzte, Juristen und Priester. Einige von uns gehören zur Opposition, zum Netzwerk der freien Initiativen. Offiziell erhalten wir keine Unterstützung. Am Anfang wurde uns die Arbeit sogar erschwert. Das hat sich aber gebessert. Das Wichtigste wäre, wenn sich ein internationales Forum, das Uno -Flüchtlingskommissariat in Genf zum Beispiel, unserer Probleme annehmen würde. Dann wäre die ungarische Regierung zum Handeln gezwungen.

Interview: Martina Kirfel