Neue Ermittlungen im „Fall“ Lotta Continua

Zahlreiche Verfahren gegen ehemalige Angehörige der 1976 aufgelösten Links-Organisation / Senator Marco Boato darunter / Dringender Verdacht der Verwicklung in Polizistenmord von 1972 / Italiens Linke schweigt zum Wiederaufrollen des 16 Jahre alten Falles  ■  Aus Rom Werner Raith

Die italienische Studenten- und Arbeiterorganisation „Lotta Continua“ (LC), 1976 aufgelöst, gerät posthum immer mehr unter Druck: Nachdem vor drei Wochen zwei ehemalige Führungsgenossen und zwei Mitläufer von Lotta Continua verhaftet worden sind, wurden in den letzten Tagen über 24 Ermittlungsverfahren eingeleitet. Prominentester Angeschuldigter ist der über eine gemeinsame Liste von Sozialisten, Sozialdemokraten, Radikalen und Teilen der Grünen gewählte Senator Marco Boato.

Alle stehen nach Meinung der Mailänder Staatsanwaltschaft unter dem dringenden Verdacht, 1972 die Ermordung des Kriminalkommissars Calabrese geplant, in Auftrag gegeben oder persönlich bei der Ausführung mitgewirkt zu haben. Verdachtsmomente sind nach Angaben der Ermittler neben den Selbstanschuldigungen eines ehemaligen Lotta-Continua-Mannes Flugschriften von Lotta Continua, in denen der Tod des verhaßten Polizisten offen begrüßt wurde: Viele Italiener halten auch heute noch den draufgängerischen Kommissar für den Mörder eines von ihm verhafteten Anarchisten, den er zu Unrecht - für den Attentäter auf die Landwirtschaftsbank von Mailand 1969 (15 Tote) hielt, und der während eines Verhörs aus dem fünften Stock des Polizeigebäudes gefallen war.

Nach anfänglichem heftigen Protest gegen die Verhaftung insbesondere einer der Leitfiguren von LC, Adriano Sofri, ist derzeit ein merkwürdiges Schweigen eingetreten. Die Sozialisten, denen sich viele Lotta-Continua-Leute inzwischen angenähert haben, gehen spürbar auf Distanz. Die Grünen weisen darauf hin, daß sie die Wahl Boatos nicht offiziell unterstützt haben, weil er wiederholt seine politische Zugehörigkeit gewechselt habe. Und selbst die Radikalen, sonst stets zum Barrikadenkampf für politische Häftlinge bereit, rufen im Namen ihres Gründers Marco Pannella allenfalls dazu auf, „nun gemeinsam die tatsächlichen Mörder Calabreses zu suchen“.

Die Medien fragen sich vor allem, ob hinter dem Aufwärmen der Mordermittlungen nach 16 Jahren politische Manöver etwa gegen den immer machtbewußter gewordenen PSI-Vize Martelli - stecken könnten.

Grund für das Schweigen ist wohl auch, daß die Ermittlungen von einem Untersuchungsrichter geführt werden, den Italiens Linke wegen seines unerschrockenen Einsatzes gegen korrupte Politiker schätzt. Hinzu kommt, daß ausgerechnet die selbsternannten Verteidiger und ehemaligen Genossen der Verhafteten Fehler und Zweideutigkeiten zuhauf begehen: Von der Verteidigung benannte Zeugen aus Lotta-Continua-Zeiten entziehen sich Vorladungen, Abgeordnete, die die Häftlinge im Gefängnis besuchen, beschränken sich nicht, wie vom Gesetz vorgeschrieben, auf eine Überprüfung von Haftbedingungen, sondern führen lange Strategiedebatten und schmuggeln Dossiers hinaus.

So hat die Staatsanwaltschaft beim Haftprüfungstermin leichtes Spiel, Verdunklungsgefahr zu vermuten und so die Freilassung der Lotta-Continua-Leute zu verhindern.

Marco Boato jedoch hat sich das Ermittlungsverfahren möglicherweise selbst durch einige Bemerkungen im Fernsehen zugezogen: „Wenn Sofri schuldig ist“, sagte er da, „dann bin ich als ehemaliger Lotta-Continua-Führer ebenso schuldig wie er.“ Der Staatsanwalt hat ihm das offenbar abgenommen.