: Synagoge aus Pappmache
■ Dörfliche Begegnung nach 50 Jahren
Johannes Winter
Kathinka Katzenberger war elf Jahre alt, da brannte die Synagoge am anderen Ende der Gasse bis auf die Grundmauern nieder. „Halbstarke waren das, junge Kerle; die leben noch“, erinnert sie sich in ihrem Lebensmittellädchen in Windecken nahe Hanau im Hessischen.
„Aber sonst“, sagt sie, „war's hier damals net so schlimm.“
Monica Kingreen wohnt ein paar Häuser weiter. Sie ist eine Nachgeborene, und sie ist zugezogen. Als die Lehrerin vor ein paar Jahren ein Fachwerkhaus in der Windecker Braugasse kaufte, machte sie eine Entdeckung. Ihr Anwesen lag im ehemaligen Ghetto, in der Judengasse, wie die Braugasse vor 1933 jahrhundertelang hieß.
Auf Monica Kingreens Nachbargrundstück stand bis 1938 die Synagoge.
Unbelastet von einheimischer Befangenheit, die den Kanon dörflicher Tabus bestimmt, machte sie ihr Wohnviertel zum Objekt historischer Forschung. Im Sohn des Bürgermeisters, auch er ein Nachgeborener, fand sie Unterstützung. Der 8.Mai 1985 zog die öffentliche Aufmerksamkeit auf die deutsche Geschichte. Das Datum, so meinten die beiden, könnte für die Gemeinde ein Anlaß sein, der Nazijahre nicht nur rituell zu gedenken.
Es gelang ihnen, Rote und Grüne im Gemeindeparlament zu einer 'Straßenumbenennung‘ zu bewegen; der Braugasse sollte ihr historischer Name zurückgegeben werden. Die Stimmenverhältnisse waren günstig. Die Stimmung im Städtchen erhitzte sich.
Unruhe kam auf im Ort, wo wie überall vierzig Jahre ein verständiges Schweigen für Gemütlichkeit gesorgt hatte. Streit brach aus. Kathinka Katzenberger setzte sich an die Spitze der Anwohner, die sich, von Betroffenheit gezeichnet, das alte Schimpfwort „Juddegässer“ vom Hals zu halten gesonnen waren. „Hier brauchen keine Erinnerungen gepflegt werden, aus dieser Straße ist niemals ein Jude vertrieben worden. Die war'n doch alle lange vor der (Nazi-)Zeit weggezogen.“ In Windecken sei den Juden „überhaupt net viel passiert, die Gass‘ mußten sie kehren, sonst nix.“
Die Umbenennung von 1933 in Braugasse - auch fünfzig Jahre später wurde, was damals die Nazis verordnet hatten, mit allem Starrsinn gutgeheißen. Die SPD und Bürgermeister Salzmann, im Besitz der absoluten Mehrheit, verließ der Mut. Der Antrag verkam in der Ablage. Die schweigende Mehrheit außerhalb des Gemeindeparlaments hatte sich lautstark durchgesetzt.
Ihr Sprachrohr, Windeckens ehrenamtlicher Stadtarchivar Rolf Hohmann, war mit Hilfe seines Lokalanzeigers in die Bresche gesprungen. „Wäre ich“, schrieb er, „praktizierender Christ und Bewohner der Braugasse, würde ich gegen die Umbenennung in Judengasse Klage erheben.“ Mit Antisemitismus habe das nichts zu tun, setzte er unverfroren hinzu. Drei Jahre später näherte sich ein neuer Anlaß zum Streit, der 50.Jahrestag der Reichspogromnacht von 1938, auch in Windecken so unverfänglich wie hämisch „Kristallnacht“ geheißen.
Von der rassistischen Terrormacht im November 1938 sagt auch heute noch niemand, er habe von nichts gewußt. Es gibt niemanden, der nicht dabei war, ob als Täter oder als Zuschauer. Allen voran die Mannen der Feuerwehr. In Windecken, wie auch anderswo, löschten sie nicht, sondern lachten, als die Synagoge mitsamt Gemeinde- und Schulhaus erst beim zweiten Versuch abbrannte; sie ließen sich für ihre Arbeit des Abbrechens das Freibier von NSDAP -Kreisleiter Else schmecken; sie funktionierten das jüdische Ritualbad zum Löschteich um. Oder Windeckens Nazi -Bürgermeister Muth, der, redlich seines Amtes waltend, die Kosten für die Aufräumarbeiten erhob: „1490,85 Reichsmark, von der israelitischen Gemeinde umgehend zu bezahlen.“
Solcher Spurensuche hatte sich unterdessen Monica Kingreen verschrieben. Sie fand Überlebende der Windecker jüdischen Gemeinde in den USA, in Israel und anderswo. Einige besuchten sie. Zwischenergebnisse ihrer Arbeit kamen dem Gemeindeparlament zu Ohren. Die Idee, jüdische Windecker in ihren Geburtsort einzuladen, entstand und wurde mehrheitsfähig, im Parlament wie außerhalb. Man einigte sich auf eine „Woche der Begegnung“ am Ort der ehemals ältesten und größten jüdischen Gemeinde im Hanauer Land.
Nicht, ohne daß auch diesmal Stadtarchivar Hohmann Laut gegeben hätte. Im Sinne der mittlerweile schweigenden Minderheit, die sich am liebsten am Stammtisch austauscht, meldete er Kritik an, „daß wohlhabenden Juden eine Touristikreise geschenkt wird“, und höhnte, „warum die SPD ihre Liebe zu den Juden denn nicht schon viel früher entdeckt“ habe.
Der Magistrat legte ihm den Rücktritt nahe, worauf Hohmann sich zur dumpfen Drohung verstieg, er habe, wie es im Lokalblatt hieß, „uneingeschränkten Zugang zu Straf- und Entnazifizierungsakten gehabt..., die bei Bekanntwerden örtlichen Parteien zum Schaden gereichen würde“. Windecken war derweil damit beschäftigt, sich in Schale zu werfen; die Fachwerkhäuser am Marktplatz wurden herausgeputzt, denn mit Pomp sollte der 700.Jahrestag des Städtchens gefeiert werden. Die „Woche der Begegnung“ wurde ins Vorfeld gelegt, der Rasen auf dem ehemaligen jüdischen Friedhof auf Golfplatzniveau geschnitten und eine neue Gedenktafel für die Synagoge aufgehängt.
Einer, der sich der Begegnung mit dem Land der Mörder nicht aussetzen wollte, schrieb aus New York: „Sie können nicht einfach erwarten, daß wir den Schmerz und das Leid der Alten und Jungen, der Unschuldigen und Schwachen ausradieren. Diese Erinnerungen aus unserem Herzen auszulöschen, wäre ein Verbrechen.“
Vor Ort aber war man ganz auf einen, wie es hieß, „Versuch der Aussöhnung“ eingestellt. Eine Begegnung mit überlebenden Opfern stand an, wo Täter und ihre Zuschauer noch leben. Das Thema Schuld hatte nicht ausgedient. Es war zum Pflichtteil offizieller Reden geworden. In diesem Sinne begrüßte der Bürgermeister fünf Überlebende, „früher wohnhaft in Windecken“, und dreizehn aus den beiden Nachbargemeinden. Es wurde von Amts wegen empfangen, geredet und gedacht; es wurden Kränze niedergelegt und Besichtigungen durchgeführt. Die Woche der Begegnung geriet zum Klassentreffen und zum Wiedersehen ehemaliger Nachbarn.
Alle im Alter zwischen 65 und 85 Jahren, fühlten sich die einen als Gastgeber und nahmen sich die anderen als Gäste vor. Wie Auswanderer oder Weltreisende wurden die Überlebenden in der ehemaligen Heimat willkommen geheißen, Gruppenfotos geschossen. Freundinnen und Freunde aus den Zeiten des Sandkastens erkannten einander wieder; über den Gartenzaun wurden Hände geschüttelt. Ohne jeden Harm begrüßte ein Einheimischer einen Verjagten: „Wir haben noch euer Sofa.“
Hilde S.Burton, Psychologie-Professorin aus Berkeley, die als Dreizehnjährige mit ihren Eltern rechtzeitig fliehen konnte, wurde von den Nachbarn ihres ehemaligen Elternhauses eingeladen. Die Herzlichkeit ihrer Gastgeber fand sie bewegend. „Aber der beste Erdbeerkuchen macht die Geschichte nicht wett.“ Es herrschte Sonnenschein, und einer, der aus Israel angereist war, rief überschwenglich aus, hier könne er's noch vier Wochen aushalten, worauf ein anderer sagte, dann befürchte er, an der Seele krank zu werden.
Beim Treffen mit der Enkel-Generation in der Schule, das zum Geschichtsunterricht für beide Seiten wurde, gab es die Tränen einer fassungslosen Fünfzehnjährigen und die Bemerkung einer Gleichaltrigen: „Sie sehen gar nicht wie Juden aus.“ Zur Sprache kam die Angst von Inge Katzmann aus New York beim Versuch, ihr Elternhaus zu besuchen, wo ihr barsch die Tür gewiesen wurde. Hilde Löwenthal aus London beharrte stumm auf dem Recht der Opfer, sich nicht dauernd erinnern zu müssen. Wilhelm Katz schwelgte von den Zeiten, als er, umjubelter Rechtsaußen im örtlichen Fußballverein, auf Torejagd gegangen war.
Als Windecken kürzlich das 700.Jubiläum als Stadt feierte, stand wie beim Fest vor 50 Jahren ein historischer Umzug auf dem Programm, mit 60 Wagennummern, allen voran der König, der die Stadtrechte verlieh.
Ortshistorie in 60 Kapiteln zog durch die Gassen, zur Gaudi der Festgemeinde, getragen von einem Gefühl für Geschichte, das alles gleich lustig und interessant findet. In Konkretion der Historikerdebatte paradierte auch, neben Hofdamen, Ritterburgen und Bauersleuten, als Wagen Nr.16 die 1938 zerstörte Synagoge, nach alten Bildern penibel vom größten Möbelhaus am Platze nachgebaut.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen