: Fingerspitzengefühl und Zeit
■ Verstehen durch Begreifen - Ein Besuch im „Museum für Blindenwesen“
Keine Verbotsschilder verunzieren die Räume, keine Alarmanlagen ertönen im „Falle eines Falles“: Im Museum für Blindenwesen darf alles angefaßt werden. Denn auf Verstehen durch Begreifen ist dieses Museum für Blinde und Sehende durchaus angelegt. Das gilt sowohl für Alltagsgegenstände, Lehrmittel, Maschinen als auch für Jahrhunderte alte Bücher.
Im Probierraum des Museums ist vor allem die Entwicklung der Blindenschrift dokumentiert, die Lösung von Schreib- und Druckschrift zur Punktschrift, die die Franzosen Barbier und Braille zu einem System vervollkommneten, das heute noch Gültigkeit besitzt und weltweit angewandt wird. Mit sechs Punkten lassen sich alle Buchstaben, Zahlen und Noten darstellen.
Jürgen Lubnau engagiert sich seit zwei Jahren im Förderverein des Museums. Seine schlanken Finger gleiten über ein Blatt, über ein Gewirr von punktförmigen Erhebungen und ertasten, was ein Besucher zuvor geschrieben hat. Allerdings für mich eine Geheimschrift.
Jürgen Lubnau lacht über meinen Seufzer. „Das Schreiben ist einfach, aber ich gebe zu, zum Lesen gehört Fingerspitzengefühl und Zeit.“ Die Punktschrift ist unser wesentlichstes Medium. Ich halte überhaupt sehr viel vom Lesen. So hole ich mir Anregungen, informiere mich, vertreibe mir die Zeit beim U-Bahnfahren. Was ich geschrieben sehe, davon kann ich mir ein Bild machen. Das ist wie bei Sehenden, das präge ich mir auch schneller ein. Zwar gibt es jetzt viel auf Kassetten, aber dabei wird man zum Analphabeten.“
Uwe Benke ist Lehrer an der Blindenschule und macht einmal wöchentlich Führungen im Museum. Er zeigt, wie auf Tafeln die Handschrift gestichelt wird, ermuntert zum Ausprobieren der Maschinen.
Vom ältesten bis neuesten Modell, von den ersten Bogen- und Stenographiermaschinen bis zur elektronisch gesteuerten, die die Schwarzschrift in eine Punkttastzeile übersetzt, werden die Geräte mit sechs Tasten plus Leerzeile bedient. Beim Arbeitsplatz für einen blinden Telefonisten versagt der Anschauungsunterricht, das Gerät ist kaputt. „Tja, wir sind eben ein Museum zum Anfassen. Das bleibt nicht aus.“ Nebenan Alltagsgegenstände und Sonderanfertigungen: Schreib- und Rechentafeln, Zentimetermaße, Zeilenhilfen für Postkarten und Briefbögen, Langstöcke, Uhren und Wecker. „Die neuen Modelle sind ein Rückschritt. Die alten Erfindungen sind viel pfiffiger. Apropos pfiffig. Der Erfinder Seiffert hat nicht nur geniale Wecker gebaut, sondern auch Vorrichtungen zum Kartenzinken.“
Die Exponate erzählen von Ursachen der Behinderung, Berufsfeldern und sozialer Stellung. Modell „Gerda“, eine Typenradmaschine, wurde 1919 speziell für Kriegsblinde und Einarmige entworfen. In Japan war der Beruf Masseur geschützt und durfte nur von Blinden ausgeübt werden. Erhalten ist eine Berufsanleitung aus der Mitte des 19.Jahrhunderts mit gegossenen Schriftzeichen. Tastbar geschrieben wurde mit einem Füllfederhalter, aus dem eine Asphaltmasse quoll.
Das älteste Blindenbuch ist eine Notenschrift von 1736, erfunden von einem blinden Organisten. In Deutschland waren der musikalischen Ausbildung Grenzen gesetzt. Benke erzählt, daß die Lehrer oft „moralinverspritzend“ waren. Die Ausbildung sollte nicht zum Betteln führen, daher durften nur nicht tragbare Instrumente erlernt werden.
Unter Glas die Hinterlassenschaften und Notizen berühmter Blindenlehrer und Erfinder. „Unglück ist ein Glück, wenn es uns groß macht“, kratzt sich ins Gedächtnis. Benke reißt mich aus den Gedanken. „Was die Globen (siehe Foto) und Landkarten angeht, da muß man sich im wahrsten Sinne noch an eine Lösung herantasten.“ Ob Staatsgrenze, Pflanzenbewuchs, Bevölkerungsdichte - alle Spezialaufsätze sind aus Plastik, und nach einer Weile werden die Finger feucht.
Das Museum für Blindenwesen ist einzigartig in Deutschland. Doch was Geld, Raum oder Personal angeht, überall herrscht Mangel. Die Hälfte der kostbaren Schätze verstaubt und kann nicht gezeigt werden. Zwar soll im nächsten Jahr der 100.Geburtstag gefeiert werden, größere Räume werden jedoch erst 1995 in Aussicht gestellt. Was wir zu sehen und fühlen bekommen, ist weniger als der Vorkriegsstand. Am Ende deckt Uwe Benke die Ausstellungsgegenstände mit Tüchern ab. „Wir haben kein Geld für einen vernünftigen Sichtschutz.“
Petra Schrott
Museum für Blindenwesen, Rothenburgstraße 14, 1/41, Öffnungszeit: mittwochs von 15.30 bis 18 Uhr
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