„Ich habe lange nicht daran geglaubt“

■ Anna Larina, die Witwe Bucharins, zu seiner Rehabiliterung

Anna Larina, eine kleine 74jährige Dame, die immer noch mehr schwarzes als graues Haar trägt, ist die eigentliche Attraktion der Filmfestspiele. Sie erzählt gerne von ihrem Leben mit Nikolai Bucharin. Sie heiratete ihn 1932. Seit ihrem elften Lebensjahr war er ihr Ideal. Bucharin war mit ihrem Vater, auch einem alten Bolschewiki, befreundet. Seine erste Ehefrau hatte, als er Larina liebenlernte, schon lange Kinderlähmung. 1925 bis 1929 hatte Bucharin mit Esther Gurwitsch, einer diplomierten Volkswirtin, zusammnengelebt. Alle drei Frauen kamen, als Bucharin der Prozeß gemacht wurde, auch ins Gefängnis, wurden in Lager und in die Verbannung geschickt. Seine erste Frau starb 1940 in der Lubjanka, Moskaus berüchtigtem Gefängnis. Esther Gurwitsch und ihre Tochter überlebten, ebenso Anna Larina und ihr Sohn.

Nach mehr als 20 Jahren Verbannung kam Anna Larina 1959 wieder nach Moskau. Sie verehrt „Chruschtschow, der Millionen Gefangenen das Leben gerettet hat“. Die Initiative für die Rehabilitierung Bucharins war damals nicht von ihr, sondern von einer Reihe von Mitgliedern des ZK ausgegangen. Man hatte sie eingeladen, sich mit ihr unterhalten und wollte schon damals Bucharin posthum wieder in die Partei aufnehmen. Wegen Chruschtschows Sturz kam es nicht mehr dazu.

Seitdem hat Anna Larina immer wieder Anträge zur Rehabilitierung gestellt. Jetzt rechnet sie damit, daß zu Bucharins hundertstem Geburtstag eine große Feier stattfindet. Fünfzig Jahre Kampf? „Nein, ich habe lange Jahre nicht daran geglaubt, daß Nikolai Bucharin jemals wieder rehabilitiert werden könnte. Als Stalin starb, dachte ich: Jetzt ist alles aus. Die jungen Leute, die wissen doch nichts von Bucharin. Die müssen doch glauben, was Stalin ihnen eingehämmert hat. Es war mir, als wäre mit Stalin der letzte gestorben, der die Wahrheit wenigstens noch wußte. Ich habe mich geirrt. Heute spielen in der UdSSR Schülergruppen den Bucharin-Prozeß nach, und sie wissen Bescheid. Stalin war einmal mein Idol, so dachten die jungen Leute nie. Sie sagen das, was ich auch sage: „Stalin war ein gemeiner Verbrecher.“

Im Gefängnis lernte Anna Larina ihren zweiten Mann kennen. Er begleitete sie in die Verbannung. 1959 starb er. Ihr Sohn aus der Ehe mit Bucharin ist 52 Jahre alt, schwer herzkrank und lebt mit ihr und dem Enkel in Moskau. Seit ihrer Reise 1936 hat sie die Sowjetunion nicht mehr verlassen können. Jetzt ist sie hier in Venedig eine gefeierte Heldin. Und nach Florenz, zum Festival der 'L Unita‘, der Tageszeitung der KPI, ist sie auch eingeladen.

Sie hat gewonnen. Hoffentlich für lange. Zu Lizzanis Film meint sie: „Er wird sicher dazu beitragen, Nikolai Bucharin bekanntzumachen. Ich wußte, daß eines Tages jemand die Stimme der Wahrheit hören würde. Ich wußte nicht, daß er Gorbatschow heißen würde, aber ich hoffte, lang genug zu leben, um das noch sehen zu können. Ich habe einige Vorbehalte gegenüber dem Film, aber das ändert nichts an seinem ästhetischen Wert und seiner positiven Wirkung.“

Frau Bucharins Autobiographie wird von Oktober bis Dezember in der Zeitschrift 'Snamia‘ (Fahne) erscheinen. Sie wird freilich mit der Verhaftung Bucharins abschließen.