Brandt zu Nord, Süd, West und Ost

Ovationen für Willy auf dem SPD-Parteitag / Brandt: „Historische Situation ist Sozialdemokraten auf den Leib geschnitten“ / Egon Bahr schwärmt vom „Spannungsbogen zwischen Vision und Vernunft“  ■  Von Charlotte Wiedemann

Münster (taz) - Der dritte Tag der SPD-Versammlung in Münster ist der Tag der Symbole. Das historische Anti-Kriegs -Datum ist für die Parteitags-Regie ein willkommener Anlaß, das politische Portrait der Sozialdemokraten nach der provokativen Wirtschaftsdebatte des Vortags nun in ein mildes Licht zu tauchen.

Während manchen Delegierten noch der Dunst von Bier und Blasmusik des verflossenen „Parteiabends“ in den Nähten sitzt, wird die Versammlung mit Brecht und Eisler auf Höheres eingestimmt. Willy Brandt spricht über West und Ost, Nord und Süd, Krieg und Frieden, und das Auditorium ehrt ihn am Ende mit stehenden Ovationen.

Nach den Tabu-Brüchen des Enkels Lafontaine und dem nüchternen Appell Vogels, die SPD müsse durch eine solide Wirtschaftspolitik wieder regierungsfähig werden, beschwört Brandt alte, schon verloren geglaubte Visionen: Eine „zweite Phase der Entspannungspolitik“ müsse jetzt gesichert werden, ein „Jahrzehnt der Verhandlungen“ liege vor uns, und - mit den Worten Jesse Jacksons - „die Party der Reichen auf Kosten der Armen“ gehe langsam zu Ende. Zwar warnt der alte Mann der SPD auch, der Gefahr von „Wunschdenken“ und „Abrüstungs-Euphorie“ zu erliegen, doch seine Botschaft ist eindeutig: Das „Jahrzehnt der Verhandlungen“ verlangt nach einer SPD an der Regierung, denn: „Wir sind die Partei der Verhandlungen.“ Die objektive historische Situation ist quasi den Sozialdemokraten auf den Leib geschnitten - so legt es Brandt nahe, und so hören es die Genossinnen und Genossen gern. Das scheint die Vision, die „konkrete Utopie“ zu sein, die Hans-Jochen Vogel zu Beginn des Parteitags forderte, ohne sie benennen zu können, und die Oskar Lafontaine später auf eine Weise füllte, daß sich manchen die Nackenhaare sträubten.

Alle drei großen Parteitagsreden seien im „Spannungsbogen zwischen Vision und Vernunft“ angesiedelt gewesen, meinte Egon Bahr. Als es jedoch später in die Beratung einzelner sozialdemokratischer Positionen zur Außen- und Friedenspolitik ging, wurde in der Partei durchaus eine Spannung zwischen „Vision“ und „Vernunft“ deutlich, besser gesagt: zwischen pazifistischen Positionen und den realpolitischen Erfordernissen einer künftigen SPD -Regierungspolitik. Zwar ist der heftige Meinungsstreit der Nachrüstungs-Debatte einem „neuen Grundkonsens“ gewichen, wie betont wurde. Doch an Einzelfragen wurden Differenzen sichtbar, die künftig wieder größere Bedeutung bekommen könnten.

Beispiel Tiefflieger: Erst nach heftiger Debatte setzte sich ein Antrag von lärmgeplagten hessischen und Pfälzer Ortsvereinen durch, den generellen Stop von Tiefflügen über bewohntem Gebiet zu fordern, ohne das realpolitische Zugeständnis, für die Pilotenausbildung dann andere Möglichkeiten anbieten zu müssen.

Gewichtigere Differenzen waren bei Redaktionsschluß noch ungeklärt: Wie verhalten sich die Sozialdemokraten bei der Ratifizierung der deutsch-französischen Verträge? „Eine andere westeuropäische, Staaten ausgrenzende Militärachse Bonn-Paris darf es nicht geben“, verspricht ein Parteitags -Papier. Doch könnte es dieser Formel, so befürchten Kritiker, gehen wie dem nicht umgesetzten Beschluß des Nürnberger Parteitags, die Kündigung des deutsch -amerikanischen Beistandspakts „Wartime Host Nation Support“ zu verlangen. In Münster lag dazu nun ein völlig verwässerter Antrag vor. Auch mit dem Rüstungshaushalt hatten die Delegierten Bauchschmerzen: Kann Reduzierung oder Einfrieren verlangt werden, wenn die künftige SPD-Regierung dann doch die Verträge mit den Rüstungskonzernen einhalten muß? „Glaubwürdigkeit“ (Karsten Voigt) heißt die neue Devise.