: "Es gibt keinen Automatismus hin zum Tod"
■ Gespräch mit Herbert, 34 jahre, AIDS-krank
Herbert hatte sich bei mir gemeldet. Er wolle ein Interview machen, habe etwas mitzuteilen und ich solle mich beeilen. „Wer weiß, ob ich in der nächsten Woche noch lebe“, sagt er. Herbert ist einer von dreien, mit denen die 'Siegessäule‘ vor dreieinhalb Jahren ein langes Interview gemacht hatte. Dieter, Peter und Herbert lebten damals gerade einige Wochen oder Monate mit ihrem Positiv-Befund. Nun hat Herbert seit einem Jahr Aids, Vollbild.
Als er mir die Tür öffnet, erkenne ich ihn nur an der Stimme. Herbert ist abgemagert und schwach auf den Beinen. Sein Gesicht geschwollen, die linke Gesichtshälfte blau angelaufen vom Kaposi-Sarkom (ein für das Krankheitsbild aids-typischer Hautkrebs, d. Red.). „Ich habe es auf der Haut, in der Lunge, im Darm, in der Harnröhre und im Lymphsystem.“ Der Krebs im Lymphsystem läßt die Lymphe sich stauen und führt zu Schwellungen. Seit Ostern wird das Kaposi-Sarkom schlimmer und führt zu den Entstellungen.
„Von den drei (kleinen Negerlein) bin ich also seit zwei Jahren der einzige Überlebende. Das habe ich schon sehr genau registriert“, kommentiert Herbert den Tod von Dieter und Peter. Beide waren kurz nacheinander gestorben, Dieter im März 1986. „Das war das Ende eines langen Abbauprozesses, auch wenn wir in seiner Umgebung uns lange geweigert hatten, das zu akzeptieren.“ Für Herbert war Dieters Tod eine wichtige Erfahrung: die Konfrontation mit dem Sterben einerseits und gleichzeitig wieder mehr leben zu lernen. „Das zusammenzubringen war nicht einfach. Aber ich ging wieder aus, ging tanzen und hatte Sex. Mein Vorsatz war, nur noch mit Positiven Sex zu machen, aber an die Vorsätze habe ich mich nicht immer gehalten.“ Nur einen Monat später starb Peter ganz plötzlich an einer verschleppten Pneumocystis carinii pneumonia, der aids-typischen Form der Lungenentzündung. „Peters Tod war ein großer Schock für mich. Er fing in der Zeit von Dieters Tod an zu husten, und dann kam es wie ein Blitzschlag.“ Herbert hatte Peter noch einen Tag vor seinem Tod besucht und sich über dessen Zustand gründlich getäuscht. „Peters Sterben hatte aber auch die Züge von Imitation. Kurz vor seinem Tod hat er noch Dieters Namen gerufen, erzählte mir seine Mutter. Peter gehört zu den sogenannten 'Testopfern‘. Er wurde von seinem Arzt, ohne gefragt zu werden, getestet und ist an der Auseinandersetzung mit dem Ergebnis gescheitert. Dieter und Peter sind zwei Pionieropfer dieser Krankheit, sie haben den Test und damit auch klargemacht, daß diese Krankheit existiert. Damals liefen ja noch Diskussionen in der Szene, ob das nicht alles nur Einbildung ist.“ Pionieropfer sind sie auch deshalb, weil sie sich öffentlich bekannt haben. „Ich möchte hier begründen, warum ich ein Pseudonym benutze. Herbert ist nicht mein wirklicher Name. Ich sehe einen Zusammenhang darin, daß ich heute noch lebe und als Kranker nicht öffentlich aufgetreten bin. Dieter war ja im Fernsehen, in der Zeitung und das hat ihn das Leben gekostet. Man macht das nur, wenn man sich sagt: Ich habe nichts mehr zu verlieren. Berufsaussichten hat man nicht mehr, wenn man als Aids-Kranker im Fernsehen war. Dieter ist davon ausgegangen, daß er sich darüber eh keine Gedanken mehr machen muß. Ich glaube, daß es Opfer dieser Aufklärungskampagnen gibt.“ Aber warum gibt man sich auf, wenn man sich öffentlich macht? Kann das going public nicht auch ein Bestandteil des Kampfes gegen die Krankheit sein? „Ich möchte nicht, daß Hinz und Kunz rekonstruieren können, wer das ist. Ich möchte Gedanken mitteilen, die auch ohne Gesicht ihren Bestand haben. Sicher, für Leute, die sich öffentlich machen und kämpfen, ist das richtig. Aber für viele gilt das Gegenteil: Sie geben sich damit auf.“
Das Miterleben der Tode von Peter und Dieter war wichtig für Herbert. „Dieter hat die Auseinandersetzung mit dem Tod sehr lange weggeschoben und sich eigentlich erst eine Stunde vorher mit seinem Sterben auseinandergesetzt. Vor Peter haben die Ärzte und seine Mutter die wirkliche Situation kaschiert. Ich bin froh, daß ich in meinen Tod nicht so hineinschliddern werde.“ Aber Gedanken an Tod und Sterben sind nur ein Teil von Herberts Auseinandersetzung, ein anderer ist fester Überlebenswille. „Ich bin überzeugt, daß Aids keine tödliche Krankheit sein muß. Es gibt keinen biologischen Automatismus, der von der Infektion oder auch vom Vollbild unweigerlich zum Tode führt. Ich glaube, daß man die Krankheit überwinden kann. Ob ich es persönlich kann, ist eine andere Sache.“ Die Krankheit wirklich überwinden oder sie in Schach halten? „Ich weiß es nicht genau, ob Viren und Infektiosität auch aus dem Körper herauszutreiben sind. Aber mindestens ist erreichbar, daß die Viren einem nichts mehr tun können.“
Meditation: eine neue Welt
Die Auseinandersetzung mit der Krankheit führt Herbert seit Januar 1987 vor allem mit Meditation. „Das war eine völlig neue Welt, gegen die ich mich auch erst gesträubt habe. Es war nur der Versuch, Kräfte zurückzugewinnen, und entpuppte sich dann als der umfassende Wendepunkt in meinem Leben, für meine ganze Weltanschauung.“ Der bis dahin strenge Materialist kommt vom Marxismus ab. „Die Utopien haben mich nicht mehr überzeugt. Aber es ist nicht ein einfaches Negieren von Marx und Hegel. Meine neuen Erfahrungen gehen darüber hinaus. Ich sehe heute das materielle Weltbild als etwas Abgeleitetes. Etwas Geistiges geht dem voraus, und mit dieser Ebene nimmt man in der Meditation Kontakt auf.“
Über diese Erfahrungen lerne man nichts durch Lesen, man müsse sie selbst erlebt haben. Herbert macht eine sogenannte Lichtmeditation und beschäftigt sich mit Ansätzen aus der alternativen Krebstherapie. Thorwald Dethlefsen, als ein bekannter Autor zu Krebs, versteht Krankheitssymptome als Symbole, die es zu entschlüsseln gilt. Streng und rigoros stößt er den Kranken auf Krankheitsfaktoren wie Schuldgefühle und Selbstmitleid. Verständnisvoller, schon weil sie selbst Krebskrank war, ist die Amerikanerin Louise Hay, die Toncassetten herausbringt. Sie versteht Selbstakzeptanz als wesentliche Voraussetzung einer Heilung. Und das Ehepaar Simonton hat konkrete Erfolge mit für todkrank erklärten Krebspatienten vorzuweisen. Als ehemals traditionelle Onkologen vertreten sie heute einen psychotherapeutischen Ansatz, der mit Krankheitsvisualisierungen arbeitet.
Nach und nach probierte er verschiedene Therapien und Meditationen aus. „Ich habe bei mir eine große Menge unter den Teppich gekehrter Schuldgefühle entdeckt. Aids lädt ja zu dieser Verquickung ein: ob Schwule oder Fixer, in beiden Fällen geht es um Tabuthemen. Ich hatte das Gefühl, ich hätte es mir zu leicht gemacht im Leben, mir nur die Rosinen herausgepickt. Ich glaubte meinen Partnern nicht gerecht geworden zu sein und hatte Schuldgefühle gegenüber einem Freund, den ich wahrscheinlich angesteckt habe. Vor allem sexuelle Schuldgefühle spielen bei mir mit, und ich glaube, damit stehe ich nicht allein. Unsere schwule Identität war doch sehr oberflächlich und eine zusammengezimmerte Selbstrechtfertigung von Promiskuität. Diese Identität ist mit Aids zusammengebrochen, auch wenn viele das nicht wahrhaben wollen.“ In einer Krankheitsvisualisierung im Neurolinguistischen Programmieren hat Herbert eine eigene Sicht von Aids auch als „ökologischer Krankheit“ entwickelt: „Das hat eine Analogie zum Waldsterben und unserer Naturzerstörung. Es ist Unsinn zu sagen: 'Die Viren greifen Zellen an.‘ Sie tun nichts anderes als wir, indem sie sich dort einnisten, wo sie sich vermehren können. Als Ergebnis zerstören sie die Wirtszelle, aber das ist nicht Sinn und Ziel, es ist nur die Kehrseite der Medaille.“ (...)
Aids als ökologische Krankheit
Herbert hat auch andere Verfahren, wie die Makrobiotik, versucht. Das ist eine strenge Diät, die vollständig auf tierische Produkte verzichtet und hauptsächlich aus gekochtem Getreide besteht. „Ich habe die Makrobiotik nach einigen Wochen wieder aufgegeben, denn ich stieß immer wieder auf das Problem der Einschränkung. Es wäre mir als Selbstbestrafung vorgekommen, wenn ich das fortgeführt hätte. So in etwa: 'Meine Krankheit verdanke ich der Ausschweifung, und nun beweise ich mir, daß ich Disziplin besitze.'“ (...) Mit der Schulmedizin lebt Herbert auf Kriegsfuß. Im Juli 1987 zeigen sich die ersten Flecken des Kaposi-Sarkoms auf den Armen. Bei einem Krankenhausaufenthalt stellt man eine Pneumocystis fest, die mit unangenehmen Infusionen dreimal täglich bekämpft wird. Er begibt sich in Behandlung bei einem Homöopathen, doch der überweist ihn wieder an einen Internisten, nachdem sich erste Veränderungen durch den Krebs im Gesicht zeigen. Herbert beginnt nun die Chemotherapie, die er vorher abgelehnt hatte. Zusätzlich nimmt er Mistelpräperate zur Immunstimulanz, doch der Effekt bleibt gering. Im März dieses Jahres hört er mit der Chemotherapie wieder auf: „Ich dachte, warum soll ich es mit der Schulmedizin hinauszögern, wenn es sowieso ans Sterben geht.“ Erst als zu Ostern das Kaposi schlimmer wird und die Angst vor der Pneumocystis wiederkehrt, nimmt er zögerlich wieder die Hilfe der Schulmedizin an, bislang alles ambulant.
„Auf dem nicht-schulmedizinischen Weg habe ich eine Menge Erfahrungen über mich gemacht, aber ich merke, daß das bei den Symptomen nicht immer ankommt. Aber auch in der Schulmedizin bekommt man nichts geschenkt. Ich bin zum ersten Mal mit Medikamenten in Berührung gekommen, die erhebliche Nebenwirkungen haben. Die Schulmedizin ist eine technische Lösung, sie kann Symptome zurückdrängen, aber gerade bei Aids stößt sie immer wieder an ihre Grenzen. Dennoch verdanke ich ihr einiges.“ Herbert sieht heute Schulmedizin und Meditation bzw. Psychotherapie als ein Nebeneinander. „Ganz entscheidend ist jedoch die psychische Krankheitsbereitschaft. Krankheit erlebt man als Opfer und meint, nichts dagegen tun zu können. Man soll sich aber klar sein, daß wir an unseren Krankheiten auch selbst beteiligt sind, und damit hast du gleich das nächste große Problem, wenn du dich fragst: Wo liegt mein Anteil?“
Neben Auseinandersetzungen hat Herbert auch schlicht Entspannung gefunden. „Die Meditation hat mir ungeheure Glücksgefühle gegeben, die ich vorher immer nur in der Sexualität gesucht habe. Es gibt dieses Glück auch auf anderen Gebieten, und es wurde mir dann klar, daß wir Sexualität mit unseren Erwartungen wohl auch überfrachtet haben. Gleichzeitig sehe ich heute aber auch, daß sich in diesen Fist-Orgien und im Drogengebrauch ein Bedürfnis nach Selbsterfahrung und Transzendenz ausgedrückt hat. Zu Beginn der Meditation ging meine Sexualität dann vollständig weg. Mir ist wichtig, ein solches Gebiet kennengelernt zu haben, unabhängig von meinen Überlebenschancen, die im Moment nicht gut aussehen.“
Den eigenen Anteil am Kranksein erkennen
Herbert setzt sich zunehmend mit Tod und Sterben auseinander, wenn er auch - gerade 34 - „87 Jahre werden will“. Er habe jetzt ein viel klareres Bild vom Tod, sagt er. „Ich sehr den Tod nicht als absolutes Ende. Was ich viel mehr fürchte, ist das Sterben, also der Abbauprozeß hin zum Tod. Aber bei Dieter und Peter habe ich gesehen, daß es letztlich harmonisch endet. Es macht sich eine Trauer bei mir breit, vielleicht bald hier weg zu sein. Ich lebe eigentlich sehr gerne.“ Aber ist die Angst vor dem Sterben nicht auch die Angst, eben nicht genau zu wissen, was danach kommt? „Ja, sicher. Ich stelle mir den Tod als ein Zurückgehen in das Licht vor. Sterben ist der Übergang zwischen Leben und Tod.“ Mit der Ebene des „Danach“ hat Herbert in der Meditation Kontakt aufgenommen, und er schöpft daraus neue Lebenskraft. (...)
Als die Krankheit begann, hat sich Herbert zurückgezogen und seinen Bekanntenkreis begrenzt. „Dieses ganze Affentheater um die Fassade in der Subkultur wurde für mich immer absurder. Aber dahinter steckt natürlich auch, daß, bevor ich nicht mehr attraktiv werde, ich mich zurückziehe und Kränkungen zuvorkomme. Das ist ein wenig schlau und ein wenig verheerend. Als es mit meinem Gesicht schlimmer wurde, war es beispielsweise besonders kränkend, einem attraktiven Schwulen auf der Straße zu begegnen.“ Heute ist schon Einkaufen oder U-Bahnfahren eine Tortur für Herbert. „Du fällst auf und wirst angegafft. Das ist nicht böse gemeint, sondern Hilflosigkeit der anderen. Und mir ist aufgefallen, daß die Leute unserer Generation viel hilfloser sind als die Fünfzig- oder Sechzigjährigen, die noch den Krieg erlebt haben. Der heutige Zeitgeist hat seine Defizite im Umgang mit Krankheit und Entstellung. Ich glaube z.B., daß ein spießiger Dandy-Club in Neukölln sehr viel besser mit so etwas umgehen kann als diese narzistische Alternativszene im Anderen Ufer oder im SchwuZ.“ Liegt ihm heute noch etwas an der schwulen Subkultur? „Ich glaube nicht, daß diese herkömmliche Subkultur unter Einbeziehung der Kranken funktionieren könnte, das Problem ist in diesem Rahmen nicht zu bewältigen. Die Fassaden, das Schweigen - in vielen Läden darfst du ja noch nicht einmal lächeln - dieser Rahmen hat für mich ausgedient. Die Leute haben sich ja auch Alternativen geschaffen, wie etwa Positiven-Kaffeeklatsch. Dennoch: in das SchwuZ würde ich schon gerne mal gehen, um zu tanzen. Ich habe immer sehr gern getanzt. Nur im Moment bin ich zu schwach dazu.“ Jetzt will Herbert wieder stärker heraus, Kontakte mit Menschen bekommen, die ähnliche Erfahrungen gemacht haben wie er. „Ich suche nach Resonanz bei Leuten, die die Krankheit ähnlich erleben wie ich. (...)“
Vier Wochen nach diesem Gespräch starb Herbert im August.
Andreas Salmen
Das Kommunikations- und Beratungszentrum Kulmer Straße will ab Oktober zwei Gruppen anbieten: eine Gruppe nach Simontons Buch „Wieder gesund werden“ und eine therapeutisch begleitete Gruppe von Aids- und ARC-Kranken. Interessenten melden sich bitte im Kommunikationszentrum Kulmer Straße 20a, 1-30, z.H. Volker Basner, Tel.: 215 90 00 (Mo-Do 17 bis 20 Uhr).
Dieses Gespräch erschien erstmals in 'Siegessäule‘, Nr. 9/88, Nachdruck durch die taz in leicht gekürzter Form.
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