: Geschichten von den „bösen“ Müttern
■ Was hat das verdrängte Bild der „bösen“ Mutter mit der Entstehung moderner Mythen zu tun? Welche Rolle spielen Gerüchte für die Angstverarbeitung? Marie Langers Essay-Sammlung „Das gebratene Kind und andere Mythen“ ist erstmals auf Deutsch erschienen
In ihrem Leben, Arbeiten und Schreiben vereinigte Marie Langer scheinbar weit Auseinanderliegendes: Sie war Psychoanalytikerin, Marxistin, Feministin und Mutter von vier Kindern. Als Tochter einer jüdischen Großbürgerfamilie wuchs sie in Wien auf und studierte (noch zu Freuds Lebzeiten) am Sigmund-Freud-Institut. Sie arbeitete illegal in der Kommunistischen Partei, entschied sich zunächst für die politische Aktion und nahm als Ärztin am Spanischen Bürgerkrieg teil. Nach ihrer Emigration mit Ehemann Max widmete sie sich der Vollendung ihrer Ausbildung und arbeitete als Analytikerin in Argentinien. In dieser Zeit entstand die Essay-Sammlung Das gebratene Kind und andere Mythen - Die Macht unbewußter Phantasien. Eine deutsche Ausgabe dieses 1957 bereits in Argentinien erschienenen Buches hat jetzt der Freiburger Kore-Verlag herausgebracht.
Wie und mit welcher Funktion verschaffen sich unbewußte Phantasien in modernen Mythen einen kollektiv wirksamen Ausdruck? - Dies ist ein Grundthema des ganzen Buches. Den Begriff des „modernen Mythos“, den Marie Langer auch auf literarische Phänomene bezieht, übernimmt sie von der französichen Analytikerin Marie Bonaparte. In Mythes de la guerre hatte Marie Bonaparte festgestellt, „daß spezifische Gerüchte, die aus sozialen und aktuell historischen Gründen entstehen, ihrem Wesen nach Mythen sind, moderne Mythen“. Marie Langer kommt mit Marie Bonaparte zu dem Ergebnis, daß „Mythen Reaktionen auf eine angsterzeugende Situation (...) sind, die ihrerseits mit einer allgemeinen psychischen Konstellation korrespondieren, die viele Menschen miteinander teilen“. Ähnlich wie das Spiel der Kinder entlasten solch „mythischen Gerüchte“ von der Angst, indem sie in der Phantasie Wünsche befriedigen, und helfen Strategien zu entwickeln, die der Vermeidung von Gefahren dienen.
Thema des ersten Essays ist ein solch mythisches Gerücht: „Die vollständigste Version jener seltsamen Geschichte, die man sich im Juni 1949 überall in Buenos Aires erzählte, lautet etwa so: Ein junges Ehepaar stellt ein Dienstmädchen ein. Die junge Frau steht kurz vor der Entbindung. Das Kind kommt zur Welt. Einige Wochen später überlassen die Eltern das Kind der Obhut des Mädchens, zu der sie inzwischen volles Vertrauen haben, um ins Kino zu gehen. Als sie zurückkommen, ist das ganze Haus hell erleuchtet. Das Dienstmädchen, folgt man der einen Version, empfängt sie mit feierlichem Ernst im Hochzeitskleid ihrer Herrin und teilt ihnen mit, daß sie eine große Überraschung für sie bereit halte. Sie bittet die beiden ins Speisezimmer, wo sie ihnen ein besonderes Festmahl zubereitet habe. Als sie eintreten, bietet sich den Eltern ein grauenhafter Anblick. In der Mitte des mit größter Sorgfalt gedeckten Tisches erblicken sie ihr Kind auf einer großen Platte, gebraten und mit Kartoffeln angerichtet. Die unglückliche Mutter wird augenblicklich verrückt. Sie verliert die Sprache, und niemand hat sie seither auch nur ein einziges Wort sprechen hören. Der Vater, von dem es in mehreren Fassungen heißt, er sei Offizier, zieht den Revolver, erschießt das Dienstmädchen und verschwindet.“ In all ihren Essays will Marie Langer aufweisen, daß neben dem Bild der „guten Mutter“ die Vorstellung einer Schrecken erregenden, kalten, grausam bösen Mutter existiert. Im hier erzählten Gerücht repräsentiert das Dienstmädchen die böse Mutter: Dienstmädchen eignen sich gut für diese Rolle: Aufgrund ihrer langjährigen Erfahrung mit Patientinnen aus der argentinischen Oberschicht kam Marie Langer zu dem Schluß, daß an Hausangestellten all jene Aggressionen abreagiert werden können, die den eigenen Müttern niemals gezeigt werden dürfen. Kannibalische Wünsche
Doch woher überhaupt diese unbewußte Phantasie, daß eine Mutter ihr Kind zum Fraße bereitet? Weil nicht die Mutter das Kind, wohl aber zu einem bestimmten Zeitpunkt das Kind die Mutter fressen will. In einer Version des Gerüchts war das Kind sechs Monate alt: genau in diesem Alter richten sich nach Marie Langer (und hier folgt sie der in Argentinien seit langem sehr geschätzten Analytikerin Melanie Klein) kannibalische Wünsche auf die Mutter.
„Wenn ein Kind Nahrung, sei es Muttermilch, Brei oder anderes, zu sich nimmt, hat es dabei die Vorstellung, die Mutter zu verschlingen, und das ist von ambivalenter Bedeutung. Es verleibt sich die Mutter ein - aus Liebe. Gleichzeitig zerstört es sie mit den Zähnen, weil es sie haßt und fürchtet und seine eigenen Aggressionen auf sie überträgt. Diese Aggressionen wachsen mit jeder schmerzlichen Erfahrung des Kindes und den von der Mutter verursachten Frustrationen.“
Nicht zufällig passiert die Katastrophe in dem Moment, als die Mutter das Haus verläßt. Eigentlicher Täter wäre auf der unbewußten Ebene also nicht das Kindermädchen bzw. die böse Mutter, sondern das Kind; denn nach Freud geht das Unbewußte vom talionischen Gesetz aus: Auge um Auge, Zahn um Zahn. Man fürchtet, daß einem genau das angetan wird, was man selbst zu tun wünscht.
Doch was die Lektüre von Marie Langers Studie vor allem spannend macht, ist ihr Bezug auf die gesellschaftliche Situation: Das Gerücht kursierte, als sich die Zeichen für eine ernsthafte Erkrankung Evita Perons verstärkten. Dies weckt diffuse Ängste in der argentinischen Bevölkerung. Marie Langer schreibt Evita Peron die Macht zu, uralte Phantasien zu mobilisieren. In der Frau des Diktators sieht sie eine ideale Projektionsfigur für die zwei gegensätzlichen Mutterbilder, die unbewußt in uns allen weiterexistieren. Dabei wird die jeweils andere Seite des Bildes geflissentlich verdrängt: So repräsentiert Evita Peron für ihre Anhänger - die sogenannten „peronistischen Massen“ - die gute, liebende, gebende, für ihre Gegner war sie die grausame, böse, verschlingende Mutter.
Diesen inneren Bildern entsprechen die gegensätzlichen Reaktionsweisen auf ihre Krankheit; während sich die einen schuldig fühlten (vielleicht hatten sie Evita tatsächlich zu sehr „ausgesaugt“, zu viel von ihr verlangt), wurde sie für die anderen als Kranke nur noch schrecklicher: In einem antiperonistischen Viertel in Buenos Aires warnte man zu dieser Zeit davor, kleine Kinder in Krankenhäusern oder Ambulanzen zu bringen - denn Evita brauche für ihre Genesung deren Blut...
Das Gerücht vom gebratenen Kind wurde zu einer Art Mythos, weil auch Evitas Anhänger - gerade durch ihre Idealisierung
-die andere furchterregende Seite des Bildes abgewehrt und verdrängt hatten. Von daher konnte auch für sie Evita zu jenem Kind bratenden Dienstmädchen werden; mit dieser Tat bestraft Evita das argentinische Volk (d.h. das Kind) für seine Unersättlichkeit und übt Rache an der antiperonistischen Oberschicht, den Eltern. Wiedergutmachung
Auch der zweite Essay handelt von Müttern - oder besser von der Frage, warum es für manche Frauen psychisch unmöglich ist, Mutter zu werden. Marie Langer, die sich in ihrer klinischen Praxis ausführlich mit psychosomatischen Empfängnisstörungen befaßt hat, nimmt ElisabethI., Tochter HeinrichsVIII. und erste „alleinstehende“ Politikerin, als ein extremes Beispiel für jene Frauen, die sich - aus neurotischen, „zwanghaften“ Gründen - weigern, Kinder zu bekommen.
Was manche ihrer Patientinnen „mit Elisabeth verband, war die Tatsache, daß ihren Müttern oder Ersatzmüttern im Zusammenhang mit der Mutterschaft etwas passiert war, das von den Töchtern traumatisch erfahren wurde (...) Wenn das Mädchen in seiner von magischen Elementen geprägten Vorstellungswelt glaubt, nichts anderes als sein Haß habe bewirkt, daß tatsächlich in der Familie etwas Schreckliches passiert ist, so wird es später nicht wagen, selbst Mutter zu werden und sich damit der Rache des Schicksals auszusetzen.“
Traumatisches findet sich im Leben von ElisabethI. im Überfluß: Fast alle Frauen in ihrer unmittelbaren Umgebung gingen daran zugrunde, keinen Sohn gebären zu können. Diesem Druck, einen männlichen Thronfolger auf die Welt bringen zu müssen, entzieht sich Elisabeth, indem sie eine Ehe von vorneherein ausschließt. Den Wunsch zu heiraten äußert sie zum ersten Mal mit 46Jahren, „als die Gefahr einer Schwangerschaft ausgeschlossen war“. Gleichzeitig bemühte sich Elisabeth, in ihrer Politik wiedergutzumachen, was sie unbewußt glaubte zerstört zu haben.
„Der Wunsch wiedergutzumachen, was sie in ihren kindlichen Phantasien zerstört hatte - die Ehe der Eltern, das Leben der Mutter, die durch den Vater zu Tode gebracht worden war
-, wurde Motor ihrer Politik. Elisabeth schuf die nationale und religiöse Einheit, verhalf der anglikanischen Kirche zu Größe und Anerkennung und sorgte für das Weiterbestehen des Glaubens, den ihr Vater durchgesetzt hatte.“ Opfertod
Im dritten Abschnitt ihres Buches fragt Maria Langer nach den Gründen für die Faszination des nobelpreisgekrönten Romans „Barabbas“ von Pär Lagerkvist. Vorbildlich für alle, die mit literarischen Texten zu tun haben, ist die Behutsamkeit, mit der Marie Langer den Romantext interpretiert. Die von Pär Lagerkvist erzählte Geschichte des „Freigelassenen“ Barabbas begreift Marie Langer als eine Version des Dramas von Ödipus; auch Barabbas hatte unwissentlich seinen eigenen Vater getötet. „Der Mörder Barabbas und das Opfer Christi bilden eine Einheit, die in ihrer Gegensätzlichkeit die zwei Seiten einer Person verkörpern, die des Sohnes angesichts des Vaters.“
Hier überträgt sie das in „Totem und Tabu“ zur Entstehung der christlichen Religion Gesagte - daß durch den Opfertod eines Sohnes der gemeinsame Urhordenmord am Vater stellvertretend gesühnt wird - auf die Romanhandlung in „Barabbas“, und ihre Analyse wirkt durchaus schlüssig.
Aufregender als die Analyse dieser Zusammenhänge ist jedoch die Studie der Barabbas-Figur als eines Menschen, der so viel Haß in sich trägt, daß er keine Kraft mehr zur Wiedergutmachung hat. Wie schon im Kapitel über ElisabethI. stützt sich Marie Langer hier auf das Konzept der Wiedergutmachung bei Melanie Klein: Was das Kind glaubt, durch seine aggressiven Impulse zerstört zu haben, will es unbewußt durch liebende Handlungsweisen wiederherstellen, „wiedergutmachen“. Den Antrieb zur Wiedergutmachung begreift Marie Langer übrigens auch als psychischen Kern sozialpolitischer Aktivitäten, die sich im Unterschied zu manchen ihrer Kollegen nicht als kompensatorisch abwertet. Wenn Barabbas so etwas wie Liebe zu spüren meint, dann zerstört, tötet er. Alles Positive, was er noch in sich hat, projiziert er auf sein Ideal, Christus; in ihm selbst bleibt nichts als völlige Leere. Angstverarbeitung
In seiner seelischen Armut ähnelt der archaische Barabbas jener psychodrogenkonditionierten Generation im 21.Jahrhundert bzw. im „2.Jahrhundert unseres Atomzeitalters“, die Marie Langer in der „Wandlung“, einer von ihr selbst geschriebenen Science-Fiction-Erzählung, als Schreckbild entwirft - Menschen ohne Liebe, ohne Leid. Die Gefühlskälte von Barabbas ist durch die Abwesenheit seiner Mutter mitbegründet: die hatte ihn bei seiner Geburt verflucht und war dann gestorben. In der „Wandlung“ skizziert Marie Langer eine mutterlose Gesellschaft; anstelle der Mutter-Kind-Beziehung werden von Geburt an sedierende Psychopharmaka verabreicht.
Die Bedeutung von Science-Fiction-Lektüre sieht Marie Langer analog zu der eingangs dargestellten Interpretation moderner Mythen in der Hilfe zur Angstverarbeitung. Die rapide und unfaßbare technologische Entwicklung löst heftige, diffuse Ängste aus, speziell paranoider und schizoider Art. Diese Ängste zu verarbeiten, die Bedrohung gleichsam spielerisch in den Griff zu bekommen, macht die Science-Fiction-Romane so attraktiv.
Was sie in ihrem Essay zur Science-Fiction-Literatur theoretisch äußert, bringt Marie Langer in der „Wandlung“ erzählpraktisch auf den Punkt: Die im Science-Fiction thematisierte Eroberung einer unbekannten Zukunft verarbeite auf der unbewußten Ebene die utopische Suche nach den ersten Objekten. In rührender Umkehrung setzt sich die Psychologin Alien Apfelbroot in der „Wandlung“ durch ein Verjüngungsmittel instand, in den Leib ihrer Patientin zu schlüpfen, um sich von Selma - einem zu dieser Zeit seltenen Exemplar eines gefühlsfähigen Menschen - neu gebären zu lassen und auf diese Weise eine „gute“ und „richtige“ Mutter zu finden. Suche nach
der „guten“ Mutter
„Die Wandlung“ liest sich auch wie eine ironische Kommentierung zu Marie Langers Motiv, Psychoanalytikerin zu werden: auch sie war auf der Suche nach ihrer eigenen „guten“ Mutter. Feministin und Psychoanalytikerin wurde sie, wie sie in ihren Erinnerungen schreibt, um ihre „verrückte“, „hysterische“ Mutter besser verstehen zu lernen; sie wollte ihr nicht mehr übel nehmen müssen, daß sie nicht mehr sein konnte als eine typische Wiener „Dame“. Überhaupt hat sich Marie Langer in ihrer klinischen und theoretischen Praxis immer für eine veränderte psychoanalytische Sichtweise der Weiblichkeit eingesetzt. Wenn auch in vielen Punkten eine treue Schülerin Sigmund Freuds, hat sie sich früh von seiner Penisneidtheorie ab- und Melanie Klein zugewandt. Denn es sei „nicht einzusehen, daß die Hälfte der Menschheit per se mit ihrem Geschlecht unzufrieden ist.“
Marie Langer starb kurz vor Weihnachten letzten Jahres. Sie gehörte zu den wenigen Analytikerinnen, die die Psychoanalyse auch als eine gesellschaftsbezogene Tätigkeit begriffen haben und die zugleich aufgrund ihres Berufs in ihrer politischen Praxis undogmatisch geblieben sind. Durch ihre Mitarbeit an einem Salud-Mental-Projekt in Nicaragua glaubte Marie Langer, die beiden Schwerpunkte ihres Lebens Marxismus und Psychoanalyse - endlich vereinigen zu können: da war sie schon über 70 Jahre alt.
Und von der Art, wie sie den „Mythos vom gebratenen Kind“ geschrieben hat - die darin spürbare Lust am Analysieren, die Lebhaftigkeit ihres Interesses, ihres Dazwischenseins -, geht aus, was auch die Wirkung ihrer Person auszeichnete: Ihr scheint ein wunderbarer Ausgleich zwischen sogenanntem Lust- und Realitätsprinzip, zwischen Disziplin und Spaß am Leben gelungen zu sein.
Monika Becker-Fischer und
Renate Obermaier
Marie Langer: Das gebratene Kind und andere Mythen - Die Macht unbewußter Phantasien. Kore Verlag Freiburg 1987, 29,80 DM.
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