: Massenflucht aus Irak hält an
150.000 irakische Kurden haben bereits die Grenze zur Türkei überquert / Türkische Militärs bestätigen Giftgaseinsatz des Irak / Hunger und Elend in den Flüchtlingslagern / Kurdische Peschmergas danken türkischer Regierung für die Aufnahme ■ Aus Hakkari Ömer Erzeren
Die Massenflucht von Kurden aus dem Irak in die Türkei hielt auch gestern unvermindert an. Nach inoffiziellen Angaben türkischer Grenzoffiziere haben im Laufe der letzten Woche 120.000 bis 150.000 Kurden die Grenze im Südosten des Landes überquert. Sie alle flohen vor den irakischen Truppen, die in einer Großoffensive gegen die Peschmergas (kurdische Guerilleros) ganze Dörfer dem Erdboden gleich gemacht haben. Tausende von kurdischen Bauern sind den Giftgasbomben der irakischen Luftwaffe zum Opfer gefallen.
Die Auffangstätten auf türkischem Gebiet bieten ein Bild des Elends. Krankheiten grassieren unter den Flüchtlingen. Umringt von türkischen Soldaten leben und schlafen die Flüchtlinge - hauptsächlich Frauen, Kinder und alte Männer im Freien. Es ist kaum eine Familie zu finden, die nicht Tote zu beklagen hat. Tagelang konnten die Flüchtlinge nichts essen. Mittlerweile kommen Militärlaster mit Mehl, wodurch zumindest Brot gebacken werden kann. Ein Großteil der Zelte, Decken, Lebensmittel und Medikamente, die aus Ankara verschickt werden, hat ihren Bestimmungsort offensichtlich nicht erreicht. Tote aufgrund Unterernährung und Krankheiten werden in die Erde verscharrt. Die wenigen türkischen Militärärzte, die bereits ein paar Worte kurdisch sprechen, sind gänzlich überfordert. Den Flüchtlingen, die in der Türkei lebende Verwandte haben, wird nach Feststellung der Personalien erlaubt, die Lager zu verlassen. Viele Kurden in den Grenzdörfern auf irakischer und türkischer Seite sind miteinander verwandt.
Geflüchtete Führer der kurdischen Peschmergas berichten in den Auffangstätten über den Einsatz von C-Waffen gegen die Zivilbevölkerung in den Gebieten Zaho, Erbil und Süleymaniye. Das Lager Lak 1 der Peschmergas Mesut Barzanis wurde gänzlich zerstört. Nur um das Lager Lak 2, im Gebiet um Mergesar und Alan, finden weiter Kämpfe zwischen den Kurden und der irakischen Armee statt.
Türkische Offiziere, die unmittelbar die irakischen Bombarde Fortsetzung auf Seite 2
FORTSETZUNGEN VON SEITE 1
ments gegen die kurdischen Zivilisten beobachteten, bestätigten gegenüber der taz den Einsatz von chemischen Waffen. Im Krankenhaus des türkischen Grenzortes Cukurca starb die dreijährige Hatice Sevket an den Folgen des Giftgases. Offiziell schweigen sich die Regierung in Ankara und der türkische Generalstab über die Vorfälle im Irak aus.
Die türkische Armee versucht an den Stellen, wo die Flüchtlinge die Grenze passieren, präsent zu sein, um sie weiter ins Landesinnere zu geleiten. Zuweilen verfolgen und bombardieren die irakischen Truppen die Flüchtenden auch auf türkischem Territorium. An mehreren Punkten zwischen Uludere und Cukurca standen sich deshalb irakische und türkische Truppen gegenüber.
Die Tageszeitung 'Hürriyet‘ meldete die Massenexekution von 50 Familien vom Stamm der Kuli und Sindi unmittelbar an der Grenze. An die türkischen Grenzkommandanten erging der Befehl, die Flüchtlinge nach Passieren der Grenze, die kaum Absperrungen aufweist, militärisch zu schützen.
Nach ihrer Entscheidung, die Flüchtlinge aus dem Irak aufzunehmen, ist das Ansehen der Regierung Özal unter der kurdischen Bevölkerung der Türkei immens gestiegen. Der Krieg der türkischen Armee gegen die kurdische Guerillaorganisation PKK, die Bombardements der türkischen Luftwaffe auf Militärbasen der Kurden im Irak vor zwei Jahren, die politisch-kulturelle Unterdrückung der Kurden in der Türkei scheinen mit einem Schlag vergessen.
Auch die geflüchteten Peschmergas feiern Özal als Retter in der Not. Bezeichnend ist ein Treffen des türkischen Innenministers Mustafa Kalemli mit Yusuf Ali Bindi, einem führenden Kommandanten der Peschmergas, am Freitag. Nach dem Gespräch skandierten die Peschmergas die Parolen: „Es lebe Kurdistan. Es lebe die Türkei. Tod Saddam.“ „Wir danken der Türkei, die unsere Familien aufgenommen hat“, erklärte die Stimme der Demokratischen Partei Kurdistans, der Radiosender Mesud Barzanis. Auch der Führer der patriotischen Front, Celal Talabani, dankte in einem Interview mit der Tageszeitung 'Milliyet‘ der türkischen Regierung: „Die Türkei hat die Herzen aller Kurden gewonnen.“
In Ankara bestätigte unterdessen ein Sprecher des türkischen Außenministeriums, daß Peschmerga-Führer Massoud Barzani, Chef der „Demokratischen Partei des Irakischen Kurdistan“, für sich und seine Anhänger politisches Asyl ersucht hat. Sein Gesuch sei im türkischen Konsulat in Urumiye (Nordiran) eingegangen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen