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Schwanken zwischen Haß und Vergebung

■ Im Prozeß gegen einen Mann, der mehrere Mädchen vergewaltigt haben soll, wurde eine neunjährige Zeugin vernommen / Rätselraten der Prozeßbeteiligten, warum das damals schwerverletzte Kind dem Angeklagten jetzt ein selbstgemaltes Bild schenkte

Im Prozeß gegen den 25jährigen Gelegenheitsarbeiter Thomas L., der, wie berichtet, wegen versuchten Mordes und Vergewaltigung mehrerer kleiner Mädchen vor Gericht steht, wurde am Donnerstag die neunjährige Anna als Zeugin vernommen. Anna war im August vergangenen Jahres in Reinickendorf schwerverletzt und kaum ansprechbar nahe einer Baumhöhle an der Mauer aufgefunden worden. Die Staatsanwaltschaft wirft dem Angeklagten vor, er habe Anna sexuell genötigt, gewürgt und ihr mit einem Holzknüppel in Tötungsabsicht auf den Kopf geschlagen. Thomas L. bestreitet sämtliche gegen ihn erhobenen Vorwürfe. Im Gegensatz zu den übrigen Anklagepunkten gab er jedoch zu, Anna zu kennen. Er bestätigte auch, mit ihr auf ihren Wunsch hin zu der Baumhöhle gefahren zu sein. Dort habe er sich geweigert, dem Kind auf den Baum zu helfen und sei anschließend allein zurückgefahren.

Anna wurde im Beisein von Thomas L. vernommen, weil ihre Nebenklagevertreterin keinen Antrag auf Ausschluß des Angeklagten gestellt hatte. Während die kleine Zeugin mit leiser, aber fester Stimme auf alle Fragen der Richter bereitwillig Auskunft gab, wanderte ihr Blick immer wieder zu dem schräg hinter ihr sitzenden Angeklagten. Anna, die Thomas L. eigenen Angaben zufolge in einer Gruppe von Kindern und Jugendlichen auf der Straße kennenlernte, erzählte, daß sie am 29.Juli mit einem anderen Kind Streit gehabt habe. Auf Thomas L.s Angebot hin, sie nach Hause zu fahren, sei sie zu ihm ins Auto gestiegen. Unterwegs habe er ihr angeboten, zu einer ihr unbekannten Baumhöhle zu fahren.

Nachdem sie dort angekommen seien, hätten sie beide „gepullert“, dann habe er sie plötzlich „unten“ mit dem Finger gepiekst. Auf ihre Entgegnung: „Hörste bitte auf!“, habe er sie hingeschubst und „mit Wut gewürgt“. „Dann“, so Anna, „habe ich mich totgestellt.“ Ob sie den Angeklagten denn wiedererkenne, fragte der Verteidiger, dem nicht entgangen war, daß Anna beim Betreten des Gerichtssaals angesichts von Thomas L. geflüstert hatte: „Das ist er ja gar nicht.“ Ja, jetzt sei sie sich sicher, erwiderte die Zeugin, Thomas L. habe jetzt nur dunklere Haare als damals.

Sie habe Thomas L. sehr gern gehabt, erzählte Anna auf Nachfrage des Gerichts. „Er war mein bester Freund. Er hat gesagt, wenn du 18 bist, dann heirate ich dich. Da habe ich gesagt, na klar, daß würde ich gern machen.“

Warum die kleine Anna nach ihrer Zeugenvernehmung ein Gespräch mit dem Angeklagten unter vier Augen verlangt und für diesen ein Bild gemalt hatte, darüber rätselten die Richter am gestrigen Verhandlungstag. Der Psychotherapeut, bei dem Anna schon vor der Tat wegen „Schulauffälligkeit“ in Behandlung war und der gestern auf Antrag der Verteidigung ein Gutachten über die Glaubwürdigkeit der Zeugin präsentierte, berichtete von einem großen „Gewissensdruck“, dem das kleine Mädchen ausgesetzt sei. Die Betroffenheit und Enttäuschung des Kindes, „Warum hat er das getan?“, drücke sich einerseits in Haß aus, andererseits aber auch in dem Wollen, das Thomas L. nicht ins Gefängnis komme. Das Bild, das Anna dem Angeklagten über einen Saalwachtmeister aushändigen ließ - es zeigt einen Mann neben einer Kirche deutet der Psychotherapeut „als Ausdruck einer allgemeinen Vergebung“. Anna sei streng religiös erzogen und gehe mit ihren Eltern zweimal wöchentlich in die Kirche.

Das Gutachten des Sachverständigen, der dem Kind volle Glaubwürdigkeit bescheinigte, stellte Verteidiger Spohr gestern nicht zufrieden. Er bezweifelte die Sachkunde des Psychotherapeuten, weil dieser noch nie zuvor ein Glaubwürdigkeitsgutachten über die Aussagetüchtigkeit von Zeugen vor Gericht erstattet habe. Über seinen neuen Antrag, Anna psychiatrisch-medizinisch begutachten zu lassen, hat das Gericht noch nicht entschieden. Der Prozeß wird am kommenden Mittwoch fortgesetzt.

plu

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