piwik no script img

Berlin - ein Schlangenei

Im Juni veröffentlichte die spanische Zeitung 'El Pais‘ eine Berlin-Serie ihres Autors Julio Llamazares / Wir haben Auszüge daraus übersetzt  ■  Der Himmel über Berlin

Der Reisende - den Kopf an das Fenster gelehnt - schaut geblendet auf die Lichter Berlins. Schon immer dachte er, daß ein Reisender in Städten zusammen mit der Nacht eintreffen muß, und wenn möglich, muß er vom Himmel kommen (wie die Piloten im Krieg und wie die Engel), um so mehr, wenn es jene Stadt ist, die allen Engeln und allen Kriegen den Namen gegeben hat: Berlin, die erst massakrierte und dann geteilte Stadt, Stadt des Lichts und des Todes. Hier ist sie: unter seinen Füßen. Berlin, das Herz Europas. Die Grenze der Welt. Berlin, das Ei der Schlange.

Keine Stadt der Welt kann wie Berlin allein durch ihren Namen so viele Bilder und Erinnerungen wachrufen. Keine kann wie sie das Gedächtnis an ein durch Kälte und Krieg erschüttertes Zeitalter symbolisieren. Der Reisende war noch nicht einmal geboren in jenen Tagen, die in Literatur und Film Gestalt annehmen würden. Es genügt ihm, die Augen zu schließen, um sich zu erinnern. Denn wir müssen nicht erlebt haben, was wir erinnern, wie wir ja auch nicht alles Erlebte im Gedächtnis behalten. So rekonstruiert er einmal mehr die Bilder jenes Oktober 1939, als Deutschland zum zweiten Mal in weniger als 20 Jahren einen Krieg begann. Oder die faschistischen Aufmärsche unter den Linden der großen Alleen Berlins. Oder die nicht enden wollenden Morgenstunden in den vielbesungenen Cafes am Alexanderplatz unter den drohenden Schatten der Luftabwehr-Artillerie. Oder schließlich, da die Motoren des Flugzeugs dumpf in seinem Kopf dröhnen, der brutale Glanz jener Februarnacht 1945, als die Bombardements der Alliierten den Himmel über Berlin in ein Inferno verwandelten.

Heute sind die alten Luftwege nach Osten für bundesdeutsche Flugzeuge gesperrt, und obwohl die westlichen Alliierten Amerikaner, Franzosen und Briten - sich noch die Kontrolle des Himmels über Berlin mit den Sowjets teilen, bleiben ihre Maschinen nur die für den Landeanflug auf den Flughafen Tegel notwendige Zeit im östlichen Teil der Stadt. Auch im Niemandsland gibt es Luft. Vielleicht verkaufen die Berliner sie deshalb - immer arrogant und immer skeptisch eingefangen in Dosen für 3 oder 4 Mark mit dem unverwechselbaren Etikett „Berliner Luft“. Geometrische Träume

Jahrzehntelang war diese Stadt - und vielleicht ist sie es immer noch - das Paradies der Architekten. An wenigen Orten der Welt und bei wenigen Gelegenheiten in der Geschichte hatten Architekten die Chance, ein Terrain von solchen Ausmaßen zu gestalten wie in Berlin. Hier verfügten sie über eine zerstörte Stadt und über die Freiheit und das notwendige Geld, sie neu zu errichten. Es reicht schon, das heutige Panorama Berlins vom Europacenter oder vom Restaurant des Radio-Turms im Südosten des westlichen Sektors zu betrachten, und diesen Blick später mit den Fotos zu vergleichen, die den Zustand der Stadt nach Kriegsende zeigen. So beginnt man, das Wunder zu verstehen, das sich in weniger als 30 Jahren hier vollzog. Traum vom Westen

Aber nicht nur die Landschaft Berlins ist nicht mehr dieselbe. Auch ihre Bewohner haben gewechselt. Jene tote Stadt, gealtert, nur noch bewohnt von Greisen und trauernden Witwen, die der Reisende von Nachkriegsfotografien kennt, ist heute die lebendigste und jüngste Stadt Deutschlands. In den Fünfzigern und Sechzigern verwandelte sich West-Berlin in den neuen Traum vom Westen - die zeitgemäße und deutsche Version. Traum von Freiheit für die auf der anderen Seite des Stacheldrahts und für die Westdeutschen, die vor dem Militärdienst nach Berlin flohen: Den Berlinern bleibt dieser Zwang erspart. Traum vom Leben für diejenigen, die mit der wirtschaftlichen Hilfe der Alliierten einen Arbeitsplatz fanden und für jene, die einfach die Legende eines Ortes suchten, an dem (wie sie gehört hatten) das Blut schneller durch die Adern pulst als in jedem anderen Teil Deutschlands.

In den Sechzigern war Berlin für die Jugendlichen ein Fest, ausgerüstet mit Rucksack und Sandalen kamen sie von ganz Europa zum Bahnhof Zoo - angezogen durch den Traum von einem mit Stacheldraht eingezäunten Westen, in dem die Freiheit trotz allem noch möglich war, und von der modernen Saga einer schizophrenen Stadt mit einem geteilten Herzen. Viele von diesen aufrührerischen Jugendlichen ließen sich in der Stadt nieder und wurden - im Laufe der Jahre - zu grauen und langweiligen Städtern. Sie fliegen in ihren mächtigen BMWs über den Ku'damm oder hocken vor den Fernsehbildschirmen, während ihre Kinder, vermischt mit den Kindern der Türken und den Kindern der Kinder jener legendären „Trümmerfrauen“, die am Rande der Stadt den Teufelsberg aufschütteten, sich die Köpfe rasieren und die Brust mit Zaumzeug behängen, um so ihre Unbändigkeit zu beweisen. Sie stürzen sich in die Straßen, einmal mehr den alten Traum vom Westen zu träumen in einer im Osten verlorenen Stadt, umgeben von Legenden und Stacheldraht.

Auf dem Ku'damm spazieren sie alle gemeinsam, für den Reisenden nicht zu unterscheiden. Seine eigene Erscheinung befremdet ihn angesichts der unüberschaubaren Vielfalt der Kostümierungen: Die jugendlichen Rocker, die mit ihren Motorrädern die Stadt durchschneiden auf dem Weg zum nächtlichen Treffen, und die Alten, deren Augen noch den Schein vergangener Nächte der Gewalt wiederspiegeln, die jungen Punks mit grabesschwarzen Augenlidern und Lippen und der Familienvater, der seine blonden überernährten Kinder spazieren führt. Diese Szene betrachtend, wird sich niemand vorstellen können, daß nur zwei Kilometer von hier eine Mauer sie trennt vom Rest der Welt. In der „Wall Street“

Der Reisende beginnt seinen Mauerspaziergang am Checkpoint Charlie. Der Morgen ist schön und sonnig und auf den nahegelegenen Feldern treiben zahlreiche Berliner Sport, führen ihre Hunde spazieren oder liegen einfach im Gras und sonnen sich, aus Gewohnheit oder Resignation gleichgültig gegenüber dieser Mauer, mit der viele von ihnen schon geboren wurden. Auf ihrer östlichen Seite, der wirklich bewachten und beschützten (obwohl die Behörden der Deutschen Demokratischen Republik die Mauer immer als Antifaschistischen Schutzwall bezeichnen), ist sie sauber und makellos. Offensichtlich würde kein Ost-Berliner sich ihr nähern - angesichts der Minen, des elektrischen Stacheldrahts und der automatischen Schießanlagen, die verhindern sollen, daß jemand die Mauer überwindet. Aber auf ihrer westlichen Seite hat sie sich nach 27 Jahren Malerei in die großartigste Mauer der Welt verwandelt. Namen, Daten, Gesichter, Anagramme, Hieroglyphen, alles, was sich der Reisende ausmalen könnte, ist hier ganz bestimmt schon gezeichnet. Millionen von anonymen Malern haben sich mit ihr 27 lange Jahre befaßt, bis hin zu Künstlern, deren Werke auf dem Markt ab 1.000 Dollar pro Quadratzentimeter gehandelt werden, wie Christophe Bouchet oder Richard Hambleton. Auch sie konnten der Versuchung nicht widerstehen, sich hier zu verewigen, obwohl sie schon im Voraus wußten, daß diese Bilder unverkäuflich sein würden. Die Brücke der Spione

Den Havelstrom hinab auf einem Ausflugsdampfer voll von Kindern und deutschen Rentnern mit kurzen Hosen und diesen unbändigen Mägen, die wohl erst wirklich gefüllt sind nach ungefähr 25.000 Litern Bier, begab sich der Reisende am Nachmittag zu einem anderen legendären Ort Berlins: Der Brücke der Spione. Der Reisende war noch ein Kind, als er zum ersten Mal in Spanien im Radio davon reden hörte. Das war zu Beginn der Sechziger Jahre. An jenem Morgen realisierte sich zum ersten Mal in der Geschichte der internationalen Spionage ein Austausch von Spionen zwischen Ost und West unter den Augen der Presse. Radiostationen in aller Welt wiederholten wieder und wieder die Namen der beiden Protagonisten: den des sowjetischen Hauptmanns Rudol Abel und des amerikanischen Piloten Gary Powers und den einer Brücke in Berlin: der Glienicker Brücke. Mit den Jahren wiederholten sich diese Austausch-Spektakel noch mehrere Male: Im dunstigen Morgengrauen beobachten schweigende Männer mit breitkrempigen Hüten zu beiden Seiten des Flusses von der sicheren Warte ihrer schwarzen Limousinen, wie zwei sehr langsam gehende Gestalten sich in der Mitte der Brücke kreuzen. Diese Szene verwandelte sich in das vielleicht beliebteste Motiv für Spionagefilme und in eines der wichtigsten Symbole des kalten Krieges.

Aber an diesem Nachmittag ist alles ruhig. Heute ist ein strahlender und friedlicher Sommertag, und unter der Brücke fahren die Spione als Rentner verkleidet auf den Dampfern spazieren. Die Enten schwimmen von einer Seite des Flusses zur anderen; völlig unbeeindruckt von der durch Bojen markierten Grenze verleihen sie dem Agentenfilm einen Hauch von Walt Disney. Nur die flatternden Fahnen, deren Masten sich an den Brückenenden gegenüberstehen, und die mit ihren Hunden am Ufer patroullierenden Soldaten erinnern den Reisenden daran, daß dies die Brücke ist, deren Namen er das erste Mal im Radio hörte, dort in Spanien, an einem schon fernen Tag in den Sechziger Jahren, als der kalte Krieg ganz Europa erschütterte und die Spione noch breitkrempige Hüte und Regenmäntel trugen. Das Gewicht der Welt

In seiner letzten Nacht in der Stadt streunt der Reisende ohne festes Ziel durch die Straßen. Er hat während all dieser Tage mit der Melancholie gekämpft, die versuchte, ihn einzuholen: Diese dunkle, süßlich-faulige Substanz, die jeden Stein und jeden Schatten in Berlin durchtränkt - als handelte es sich um eine tote Stadt. Doch jetzt fühlt der richtungslos im Wind einer deutschen Nacht Umherstreifende, wie der Schatten mehr und mehr sich seiner Schritte bemächtigt - während er in der Stille der Nacht die Worte anderer Männer vernimmt, die lange vor ihm diese Straßen durchwandert haben. Männer wie Paul Celan (...), wie Isherwood, wie Handke, wie der nostalgische Nabokov im Exil (...), oder wie jener spanische Romantiker, Enrique Gil y Carrasco, der unermüdlich reisende Autor stimmungsvoller Novellen, der hier 1844 als Botschafter ankam und, tuberkulös, hier starb und zu Füßen der Mauer begraben war, bis im letzten Jahr seine Überreste ausgegraben und nach Spanien geschafft wurden. Männer, die lange vor dem Reisenden in diesen Straßen schon das Gewicht der Welt spürten, das in Berlin vielleicht schwerer wiegt als an jedem anderen Ort der Erde.

Aus dem Spanischen von Helle Götz

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen