Heinz Ohff

Es dauert immer eine Weile, ehe etwas vom großen, wilden, aufgeregten Berlin hierher in meine Idylle dringt. So komme ich wohl mit dem, was auf der Seite „Berliner Künstler sehen Berliner Kunstkritiker“ als „Image-Interpretation“ bezeichnet wird, etwas zu spät (und ein Kritiker sollte nie zu spät kommen). Trotzdem: natürlich habe ich mich schon gewohnheitsgemäß sofort mit der Analyse jenes Fotos beschäftigt, unter dem ich zu meinem Erstaunen meinen Namen fand. Eine Alpenlandschaft mit einer Leichtbekleideten, die sich auf grünen Matten sonnt.

Definiert man zunächst den Bildinhalt, kommt man zu dem Ergebnis, daß er von zwei zentralen Dingen beherrscht wird: von einem ganz besonders scheußlichen und steilen Berg mit ewigem Schnee im Hinter- und einem besonders hübschen weiblichen Popo im Vordergrund. Ich bin erstaunt, wie gut eine ausgesprochene Ab- und eine ebenso ausgesprochene Zuneigung bei mir - Blattschuß! - getroffen erscheinen. Mit den Alpen und ähnlich hohen Gebirgen kann ich gar nichts anfangen; ich bin mehr für das Meer. Dafür sehe ich mich durchaus imstande, den zweiten Höhepunkt von ganzem Herzen zu akzeptieren.

Umsomehr als ein geschulter Blick als Kompositionsgerüst des fraglichen Postkartengemäldes sofort zwei Diagonalen erkennen wird, die von rechts oben nach links unten und von links oben nach rechts unten verlaufen. Mein Lieblinbgsbildaufbau, sowohl im Abstrakten, als auch, wie hier, im Konkreten. Das sorgt für eine gewisse Symmetrie, die zwar allgemein als „Ästhetik des kleinen Mannes“ gilt, für die ich aber mein ganzes Kritikerleben hindurch etwas übrig gehabt habe.

Kommen wir von Bildinhalt und Bildaufbau zum Bildsinn. Er ist, wie Kunst zu sein hat, nämlich ambivalent. Man könnte sich vorstellen, daß der Sich-Sonnenden mit dem strammen Gesäß noch einiges bevorsteht: ein Wettersturz, den der Graudruck zu implizieren scheint (stellen Sie sich vor, in dreitausend Meter Höhe über dem Meeresspiegel von einem Gewitter überrascht zu werden!), Ameisen, Heuschrecken, Sonnenbrandblasen, eventuell sogar ein sich nahender Vergewaltiger - aber da fällt mir ein, daß es auf der Alm ja koa Sünd‘ nicht gibt. Eine weitere Möglichkeit, unwahrscheinlich auf dieser Welt, ist die, daß die Idylle Idylle bleibt. So tritt zum Bildinhalt auf dem Umweg über den Bildsinn etwas Utopisches, Surreales, die Hoffnung, da oben, wenn auch nur vorübergehend, womöglich bis zum erwähnten Wettersturz, das Stückchen einer besseren Welt erhascht zu haben.

Sollte die Szene dazu aus der Schweiz, Oberitalien oder Österreich stammen, so enthielte sie auch etwas Völkerverbindendes (denn stur wie die Schöne auf der Alm liegen die Leute überall in den erhabensten Gegenden herum, ohne auf die - für mich allerdings nicht unbedingt bildschöne Gegend zu achten: Kopf ins Gras und Hinter in die Höhe!). Sehen Sie: die Idylle ist gar nicht so idyllisch genau hier, beim sinnlosen Sonnenbaden, könnte auch ein Kritischer Realist ansetzen oder ein Kritischer Heftiger. Die Schönheit der Welt stößt auf Nicht- oder sogar Mißachtung. Warum legt sich dieses Weib nicht an den heimischen Wannsee oder brät ihren Wanst in einem Kreuzberger Hinterhof? Der Wettersturz mit eiskalten Hagelschauern, der sich hinter der drohenden Bergspitze zusammenbraut, sei ihr gegönnt!

Horridoh! Ich habe die kritische Bildinterpretation noch nicht verlernt!

Mit herzlichen Grüßen aus dem idyllischen Cornwall.

PS: Thomas Mann hat einmal vorgeschlagen, den deutschen Satzzeichen eines hinzuzufügen, und zwar ein umgekehrtes Fragezeichen. Da die Deutschen - so Thomas Mann, nicht ich angeblich keine Ironie verstehen, sondern diesselbe sofort für bare Münze nehmen, sollte das umgekehrte Fragezeichen am Anfang von allem stehen, was man nicht ganz ernst meint, und am Ende auch. Denken Sie sich vorsichtshalber ein solches umgekehrtes Fragezeichen vor und hinter dem gesamten Text.