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WIR BASTELN UNS EIN BLUTBAD

■ Damit der Katastrophennachwuchs fit bleibt, hält der Innensenator heute unter dem Namen „Kleeblatt“ einen Crash-Kurs ab. An fünf ausgewählten Orten kommen zur Generalprobe: Entgleiste U-Bahnzüge, Explosionen, radioaktiver Fall-out und ausströmendes Giftgas

Fritz Balthaus

Der erste Unfall ist die Regelkatastrophe im Gesicht der Abendschausprecherin. Während sie uns die Mitteilung von hereinbrechenden Katastrophen vorliest, zeigt ihr Gesicht unverhohlene Freude; denn was sich zunächst aus dem Leid anderer zu speisen scheint, entpuppt sich als Meldung von Katastrophen zum Ausprobieren. Es geht um Schutzübungen, in denen sich der Nachwuchs der Hilfsdienste bewähren kann. Daran fehle es in Berlin, konstatierte man letzte Woche auf der Pressekonferenz zur geplanten Großübung, nämlich an geeigneten Katastrophen und an freiwilligem Nachwuchs der Hilfsdienste.

Der Anschlag auf die Discothek La Belle sei beispielsweise ein „katastrophales Unglück“, aber keine Katastrophe per Definition gewesen. „Die Verwaltung hat die Aufgabe, Katastrophen zu verhindern“, so Kewenig, und weiter: „Als Beitrag gegen unsere Veranlagung, Dinge, die in der Zukunft liegen, zu verdrängen, sind Katastrophenschutzübungen unerläßlich.“ Außerdem meint er, daß „unsere Phantasie nicht ausreiche, uns die Katastrophen wirklich auszumalen“, aber das werde ihn nicht abhalten, „sich ernsthaft auf den Ernstfall einzurichten“.

Einige Berliner Bezirke haben schon vor dem heutigen Übungstag geprobt. Beim „Tag des Ersthelfers“ in Tempelhof übte man am populären Objekt. Mit einem tonnenschweren Bagger wurde eine Flasche Dunkel in einem obszönen Akt von A nach B gerettet. Die pädagogische Hinterlist demonstrierte dabei heimlich die tremorfreie Hand des malzbiertrinkenden Freiwilligen. In den Übungspausen erstickt Blasmusik aus einer Berieselungsanlage die Langeweile im Keim. Der Propagandastand wirbt mit Feuerzeugen, die Feuerwehr führt mal wieder ihren eigenen Beweis. Jeder Feuerwehrmann ein potentieller Brandstifter. Die Pole sind geschmolzen, jede Menge Löschwasser im Kampf gegen die Rauchmaschinen.

Verschiedene Pfadfindergruppen bilden das Schlußlicht der freiwilligen Bürgerdienste im KatHD, der Zusammenschluß von freiwilliger Feuerwehr, Arbeiter-Samariterbund, Johanniter -Unfallhilfe, Technisches Hilfswerk, DRK, DLRG und Malteser Hilfsdienst. Für Orden, Ehre und Geselligkeit stellen sie sich den schwierigen Aufgaben der Gefahrenabwehr. 2.500 Aktive werden mit unzähligen Simulanten Massenszenen des differenziertesten Jammers bilden. Für ein U-Bahnunglück, das heute morgen um 10 Uhr seine große Stunde hat, wird die „Maske“ des Arbeiter-Samariter-Bundes bereits vier Stunden vor Beginn mit der „wundgerechten Darstellung“ der Unfallopfer befaßt gewesen sein.

Als U-Bahnunglück, Giftgasexplosion und Hausbrand bleiben die geplanten Fälle brave Einstiegswitze am Beginn der Katastrophenspirale mit ihren heutigen Möglichkeiten. Als kleinste anzunehmende Unfälle halten sie sich in beruhigendem Gleichgewicht, könnten durchweg verursacht sein vom Mann auf der Straße, für den Mann auf der Straße. Das alles im anständigen Klima von „Frauen und Kinder zuerst“. Gute, alte Unfälle mit gemütlich Zeit. Alles war schön, nichts tat weh.

Die Vorstellung, sich vor Unfällen zu schützen, ist noch nicht alt. Als die Katastrophe noch als die strafenden Hand Gottes interpretiert wurde, glaubte niemand an die Möglichkeit einer wirksamen Beeinflussung der vorgegebenen Schicksalsschläge. Als die Vorsehung aber verspielt hatte, kam die Stunde des Zufalls. Die Ereignisse formierten sich aus den erklärbaren Prinzipien weltlicher Gesetze, und kein kausaler Schuldanwurf lauerte in den Launen der Natur oder sonstwo. Dieser aleatorische (vom Zufall abhängige, gewagte

-die k. (mit Hilfe des Nachlasses von Hern Duden)) Kanon, der den Alltag immer neu erfindet, macht ihn genießbarer, aber auch mühseliger. Auf den Feldern zwischen Chaos und Ordnung versuchen wir uns selbst, ohne jedoch den letzten Schritt zur 100%igen Ordnung hinzukriegen.

Bei seinem Coming-out gefährdete der Zufall uralte Privilegien und wurde schlicht als abzustellender Mangel interpretiert. Am erfolgreichsten sind heute diejenigen, die den Zufall in höchstem Maße ausschließen. Die anderen nennt man Chaoten.

Die mit dem vernünftigen Plan in der Hand nennen ihn „dummer Zufall“. Wenn er in seiner Sonderform als Unfall passiert, heißt er „menschliches Versagen“. Wieder sind wir schuld. Das ist die säkularisierte Spielform des Vorsehungseffekts.

Unfälle sind bis in die letzten Winkel ihrer Gestaltung souverän, darin liegt ihr erfrischender Charme. Keine korrupte Botschaft ist intendiert. Das Interesse der Schaulustigen ist ehrlich, und die Situation gerät regelmäßig zur feierlichen Zusammenkunft. Im organisierten Alltag sind u.a. Sanitäter, Künstler, Feuerwehren und Dramaturgen die Ordnungskräfte im Einsatz gegen den Zufall. Ihr Auftrag ist der Kampf gegen die Restunruhe, die die häßliche Gewißheit der alltäglichen Zufälle in uns entfacht.

Wenn gewöhnliche Passanten sich glücklich schätzen, vom herunterfallenden Blumentopf verschont geblieben zu sein, dann müssen Staatsmächte mit ganz anderen Ausweichmanövern in den Medien den demokratischen Zufall ausschließen. Wirkungsvoll geschieht das mit der Inszenierung des Volkswillens, und die hat Ähnlichkeit mit der Simulation von Unfallopfern.

Soviel zum Zufall, der von nun an Unfall, Attentat, Terrorismus, Störfall, Brandstiftung oder Katastrophe heißt.

Über den Großbrand in der Frankfurter Oper hat sich der Brandstifter Zufall wirksam in Szene gesetzt. Eigentlich war ein Auftritt von Künstler Zufall geplant: Auf dem Spielplan stand ein musikalisches Werk seines Hauptvertreters John Cage. Bereits geschriebene Opern waren der Stoff für seine Zufallsoperationen. Beim Ritt durch den Opernführer sollte der Zufall lediglich als Einsatzgeber fungieren. Armer Zufall. So hätte sich die Aufführung als blasser Affront in Routine, als kecke Störgewohnheit am Abonnentenohr zufrieden geben müssen. Die schönen Künste parieren ihn als gezähmte Idee. Ein liberaler Zufall.

Der Brand aber wurde werkgetreu gelegt, und wer denkt, der Schadensfall könne Cage die Aufführung vermasseln, der ahnt nichts von der reziproken Inszenierung im Kopf des Kunstfreundes, der alle Zufälle im Simultanen als sein eigenes Werk imaginiert.

In dieser Dramaturgie vollziehen plötzlich 500 Feuerwehrleute die entscheidenden ästhetischen Schritte auf der Handlungs- und Kostümebene, und, noch wichtiger, sie leisten über ihre Einsatzkosten den transgressiven Griff in die bisher an Kunst unschuldig gebliebenen Kassen der Innenverwaltung. Brände sind Opern fürs Volk. Und die Mehrheit hat sich schon lange gegen die wahre Gewalt der störungsfrei angelegten Erhebungsdramen ausgesprochen. Die Kunst bleibt stolz auf ihre Urheber, und sie tut gut daran, denn ohne sie wäre sie selbst ein Alltag, und in diesem könnte sie auch ein Unfall sein. Als Schöpfer der Ursache des Unfalls ist der Verursacher immer schuld. Für den Urhub des Künstlers in der Kunst gibt es zuwenig Ankläger.

Cage hat seinen überraschenden Eingriff von der Feuersbrunst möglicherweise gar nicht bemerkt. So wurde die Einführung des Unfalls als nachgereichter Beweis der Kunst verschlafen. Gut.

Böse, böse ein anderer Fall. Da kommt ein zeitgenössischer Künstler mit einem Tafelbild um die Ecke und macht es zum Ort eines regressiven Federballspiels. Auf einem Triptychon wird die berühmte Badewannensituation des fast vergessenen Herrn Zufalls, Barschel, mit dem Tod eines völlig vergessenen Herrn Marat verglichen. Was soll das? Besser, was kann das, außer einen fragwürdigen Beweis für die Kunst zu konstruieren, deren Indizien hier als konventionelle Bildform eigentlich nur andeuten, daß der Kunstschöpfer im Museum einen besseren Leumund sieht als in einem Foto, das er im Stern hätte plazieren können.

Auch wenn Cage uns mittlerweile nichts Neues zu sagen hat, der Marat-Fall jedenfalls ist ein dumpfer Rückwärtsschritt mit einem ausgelutschten Ästhetikprogramm. Nicht mal geschmacklos.

Da ziehen Siegerpolitiker aktuellere Register und erweisen der Presse direkte Reverenz. Mohammed al Gaddafi lieferte vor einiger Zeit eine Perle der Unfallsimulation. Das libysche Minimodell eines Unfalls aus der deutschen Geschichte: Das libyische Volk habe beschlossen, daß ihm die Musik westlicher Völker schade. Aus diesem Grund wird es an zentraler Stelle in Tripolis eine öffentliche Verbrennung von westlichen Musikinstrumenten veranstalten. Und tatsächlich, eingerahmt vom Volkswillen, gingen auf dem großen Platz der Hauptstadt, vor den Kameras der Welt, Schlagzeugpauken, Gitarren und anderes Teufelszeug der Westmusik in Rauch auf. Doch wer genauer hinsah, konnte erkennen, daß zum einen nur ein paar Volksstatisten anwesend waren, zum anderen hauptsächlich Instrumentenkoffer verheizt wurden und der Volkszorn ein von Anfang bis Ende fingierter Medienakt war. Mit Aufführungsrechten aus dem deutschen Film „Kristallnacht“. So hilft man der Fata Morgana aufs Kamel und schickt sie zum Nomadisieren in die Wüsten der elektronischen Trugbilder.

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