Paragraph-218-Aufruhr in Memmingen

2.000 demonstrierten am Samstag in Memmingen gegen den Paragraphen 218, den Prozeß gegen den abtreibenden Arzt und die Allgäuer Hexenverfolgung / Gottesfürchtige beten, Lebensschützer wettern gegen die Schande der Nation  ■  Von Gunhild Schöller

Memmingen (taz) - So etwas hatte man in Memmingen noch nie erlebt. In der kleinen Stadt im streng katholischen Allgäu, wo man große Demonstrationen nur aus der „Tagesschau“ kennt, ziehen am Samstag mittag leibhaftige Punks mit grünem und blauem Haar, ein Schwarzer Block (aus München) und ein gemischter bunter Haufen von jungen und älteren DemonstrantInnen durch die Altstadtgassen. Kopfschüttelnd und neugierig stehen die Memminger auf dem schmalen Bürgersteig und glotzen auf diesen Umzug. Warum es diesen heute gibt, ist jedem bekannt, das ist Stadtgespräch: die 277 Strafverfahren gegen Frauen, die in Memmingen bei dem Frauenarzt Horst Theissen abtreiben ließen, die Geldstrafen bis zu 3.200 Mark, die sie bezahlen mußten, und der Prozeß gegen den Arzt selbst, der vergangene Woche begonnen hat. Deshalb organisierte das Memminger Frauenzentrum eine Demonstration - mit 2.000 TeilnehmerInnen die größte, die Memmingen je erlebte.

„Wir sind grundsätzlich gegen Demonstrationen“, zwei Frauen, 34 und 35 Jahre alt, blicken pikiert auf das Treiben in der Straße. „Wir waren gestern in der Kirche und haben gebetet.“ In St. Joseph hatten am Freitag abend der katholische und der evangelische Pfarrer zu einem gemeinsamen Gottesdienst „für das ungeborene Leben“ geladen. Ob sie auch für das abtrünnige Schaf Dr. Theissen und seine Patientinnen gebetet haben? „So etwas wird nicht groß verkündet, aber es gab bestimmt viele stille Gebete für sie.“ Der Prozeß gegen Theissen, der sei „gerecht, denn er hat sich bewußt strafbar gemacht. Daß Abtreibung verboten ist, das steht doch in unserer bayerischen Verfassung“, behaupten sie ernsthaft.

„Meinen Sie, daß auch nur ein einziges der abgetriebenen Kinder in Memmingen hätte hungern müssen?“ schreit ein hagerer Mann die DemonstrantInnen an. Er gehört zu einer Gruppe von „Lebensschützern“, die mit ihren ins Riesenhafte vergrößerten Bildern von zerstückelten Embryonen den Demo -Zug gegen den Paragraphen 218 am Straßenrand erwartet. „Abtreibung ist Mord! Wir sagen das laut: Eine Schande für die Nation!“, ein „Lebensschützer“ muß von seinen Gesinnungsgenossen zurückgehalten werden, damit er nicht auf einen jungen Mann losgeht, der es gewagt hat, ihm zu widersprechen.

„Wirklich nicht schön“ findet dagegen eine 40jährige Hausfrau aus Memmingen die Urteile, die gegen Frauen wegen illegaler Abtreibung ergingen. „Deshalb sehe ich das hier mit Sympathie“, bekennt sie. „Ich finde das gut, daß Frauen sich wehren.“ Eine 18jährige Schülerin, die neben ihr steht, sagt: „Wenn ich heute schwanger wäre, müßte ich auch abtreiben. Ich kann meine Ausbildung doch nicht abbrechen. Und die Demo gefällt mir, weil endlich viele Leute mal zeigen, daß sie eine andere Meinung haben als die, die von der Kanzel gepredigt wird.“

Starken Extra-Applaus gibt es auf der Kundgebung, als Annegret Remy vom Frauenzentrum Memmingen gegen die „Doppelmoral“ der katholischen Kirche spricht. „Frauen werden auch deshalb ungewollt schwanger“, ruft sie, „weil der Papst das Verbot von Verhütungsmitteln verkündet! Auf der einen Seite sagt die Kirche dann, Abtreibung sei Mord, auf der anderen Seite aber segnet sie Waffen!“ Von der Frauengruppe aus Kiel über Pro Familia Bremen bis zum Frauenzentrum Passau - von überall in der Bundesrepublik waren Frauen und auch Männer gekommen, um vor Ort gegen die „Memminger Hexenverfolgung“ auf die Straße zu gehen. Rita Süssmuth soll das geplante Beratungsgesetz zum Paragraph 218 schnellstens zurückziehen - das ist die einhellige Forderung aller Rednerinnen. Denn sonst herrschten „bayerische Verhältnisse“ bald in der ganzen Bundesrepublik.

Auch der angeklagte Arzt Theissen kommt zur Kundgebung. Die Memminger Frauen nehmen ihn in ihre Mitte. „Solche Menschen, die um mich rum sind und mich schützen, brauche ich jetzt dringend“, sagt er. Zwei Morddrohungen hat er schon erhalten. Als Brigitte Hörster, Rechtsanwältin aus Augsburg, die einige der angeklagten Frauen verteidigte, ins Mikrophon ruft, „Theissen müßte ein Orden verliehen werden dafür, daß er Frauen in Not geholfen hat“, wird er rot und lächelt verlegen.

Ingrid Skarpelis-Sperk, SPD-Bundestagsabgeordnete für diesen Allgäu-Kreis, tritt ans RednerInnenpult. Sie hat eine Spendenaktion für die Frauen organisiert, die z.T. einen Kredit aufnehmen mußten, um ihre Geldstrafe zu bezahlen. Jetzt kritisiert sie vehement, daß beim Verlesen der Anklageschrift gegen Dr.Theissen am Freitag im Gerichtssaal die Namen aller 156 Frauen genannt wurden, bei denen Theissen illegal abgetrieben haben soll. „Ein Spießrutenlaufen wird das für diese Frauen!“ ruft sie ins Publikum. „Und für deren Männer und Kinder!“ schallt es von dort kenntnis- und erfahrungsreich zurück.