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ACTIOREACTIO

■ Lydia Lunchs Harry Crews im Quartier Latin

Hier wird uns New York verkauft, die typische New Yorkerin. Man will uns glauben machen, daß in jener Stadt jedermann und jedefrau nur damit beschäftigt ist, tagaus, tagein Kunst zu produzieren. Alle Formen, Arten und Abarten davon, aber vor allem reichlich und nach Möglichkeit alle auf einmal. In New York ist jeder ein wandelndes Gesamtkunstwerk. Lydia Lunch ist aus New York, ein wahrhaft kunstgetränkter Ruf eilt ihr voraus, also sind alle gekommen, haben die Vernissage sausen lassen und suchen jetzt hier ein Opfer, dem sie erzählen können: „Ich bin übrigens Künstler.“ Und sie warten, daß es passiert - Kunst. Ein paar Typen direkt vor der Bühne warten statt dessen auf das von 'Zitty‘ versprochene Lüften des Minirocks - auch das passiert nicht.

Was passiert, ist leise, laute, fließende, eruptive, träumerische, ekstatische Musik. Ein Vulkan explodiert und eine Tonlava wälzt sich, sanft und gewalttätig alles unter sich begrabend, von der Bühne. Maschinengewehrgeschnatter, immer wieder und nochmal, die Haare schweben und die Körper zucken, während sie die Instrumente bearbeiten, kurz und impulsiv. Eine Eruption nach der anderen, dafür finden Implosionen statt, hier bewegt sich niemand, actioreactio. Herz und Nieren zusammenkrampfen und dann zerreißen und noch eine Explosion und die Stimme wie ein stotterndes MG, immer den Faden, nie das Ziel verlierend. Ein einziger großer Orgasmus, Männer werden vergewaltigt, Männer und ihre Musik, Rockmusik und Jazz, Punk und Wave, und die Einstellung, daß Frauen nett im Vordergrund stehen dürfen oder in die klassischen Tasten hauen. Vergewaltigt wird die alte Formel WildLärmKunst und nur Männer können Kunst, weil Frauen nicht wild genug, nicht triebhaft genug sind. Hier wird damit aufgeräumt. Gib den Frauen, was sie besser können, denn sie haben wirklich Grund, sauer zu sein, gib ihnen den Lärm, erlöse sie von dem ewigen Wir-sind-so-sanft und Wir -sind-so-harmonisch, gib ihnen den Lärm. Die schönsten Momente sind, wenn Balladen, die klassische Form, in der Männer ihre Liebe den Frauen gestanden haben, in ihrer Struktur völlig zerlegt werden, wenn der Baß klingt wie meine alte Universum-Kompaktanlage mit den zwei durchgeknallten Boxen und die Gitarre atonal von Ton zu Ton schrammelt und quiekt, sich verliert in der Morbidität, die Liebe nur sein kann, jedenfalls wenn man in Manhattan lebt, Kunst macht und professionell das Blut anderer Leute saugt.

Thomas Winkler

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