piwik no script img

Wg. Einseitigkeit verspätet

■ Fraktionsinternes Hickhack über Grüne Nato-Broschüre / Joschka Fischers Position im Anhang Lesbare Informationen über Geschichte, Verträge und Bündnisstruktur

Der Titel kommt trotzig-plakativ daher, als wär's die neue Bibel: Die NATO-Broschüre der Grünen. Und dann noch herausgegeben von der Bundestagsfraktion, nicht von der Partei - da riechen friedenspolitisch Eingeweihte den Konflikt schon am bunten Papp-Einband. In der Tat: Das 120 -Seiten-Werk erscheint nur scheinbar rechtzeitig zu den Friedens-Aktionen in diesem Herbst. Seit Monaten sollte es schon auf dem Markt sein, doch das Manuskript, verfaßt von Mitarbeitern der Friedens-AG der Partei, wurde von Widersachern in der Fraktion mit Otto Schily an der Spitze auf's strömungspolitische Eis gelegt - Prädikat: zu einseitig.

Bei der Behandlung einer doch recht einseitigen Organisation wie der Nato nimmt sich der Vorwurf für Außenstehende zunächst wunderlich aus, allerdings nur, wenn man die Papierstöße übersieht, die zur immergrünen Streitfrage „Raus aus der Nato oder nicht?“ schon produziert wurden. Die Argumente derer, die „die Westintegration entdämonisieren“ wollen und die Nato-Austritts-Forderung für reaktionär halten, weil sie einem national-chauvinistischen deutschen Sonderweg Vorschub leiste, finden sich nun im Anhang der Broschüre - ein Kompromiß, den die Fraktion schließlich fand, um das sonst unveränderte Manuskript doch noch zu veröffentlichen, und der so schlecht nicht ist: Joschka Fischers Rede in der Berliner Urania über Wiedervereinigungsillusionen und NATO-Austrittsfiktionen ist allemal lehrreich nachzulesen. Auch wie der grüne Fraktionsmitarbeiter Jürgen Schnappertz in einer Kommune -Serie in den Fußstapfen Adenauers wandelte, um dessen „moderne Außenpolitik“ zu rühmen.

Ansonsten liegt die Broschüre auf der grünen Mehrheits -Linie von Parteitags-Beschlüssen: daß nämlich ein bundesdeutscher Nato-Austritt nur Bestandteil einer Politik der einseitigen Abrüstung und der bewußten Selbstbeschränkung sein könne und eine „Zwischenetappe“ wäre auf dem Weg zur allgemeinen Blockauflösung. Allerdings betonen die Verfasser die zentrale Rolle, die die BRD als zweitstärkste Nato-Macht in diesem Prozeß spielen würde: „Denn eine Nato ohne BRD dürfte auf Dauer kaum Bestand haben; ein bundesdeutscher Nato-Austritt wäre mithin zentrales Kettenglied für die Auflösung der Nato.“ Der Fortgang der grünen Kontroverse soll in einem Diskussions -Band veröffentlicht werden, wird glaubhaft angedroht.

Überwiegend hat die Broschüre durchaus informativen Gebrauchswert, zumal für diejenigen, die sich bisher noch nicht durch die vielleicht anspruchsvolleren, aber auch schwerverdaulichen Nato-Broschüren der Münsteraner „Dokumentationsstelle“ gewühlt haben. In acht Kapiteln werden die Geschichte der Blockbildung, Verträge, Bündnisstruktur, Doktrin-Entwicklung und Europäisierung lesbar abgehandelt - Pflichtwissen für FriedensaktivistInnen gerade zu einer Zeit der politischen Desorientierung in den Bewegungs-Resten und angesichts weitverbreiteter Illusionen in eine scheinbare Abrüstungswilligkeit und -fähigkeit der Nato. Nützlich zum Nachschmökern ist auch der Dokumentenanhang mit Auszügen aus der Himmeroder Denkschrift, den Pariser Verträgen, dem Harmel-Bericht u.a., alles zum politisch kalkulierten Preis von fünf Mark.

Was über den Herausgeber nachzutragen bleibt: Erstens - wg. Ausgewogenheit beschloß die Fraktion nun auch eine Broschüre zum Warschauer Pakt. Zweitens - das Bedrucken von Papier ist allein noch keine Politik.

Charlotte Wiedemann

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen