: "Es ist alles etwas chaotisch hier"
■ Mittwoch abend in der Berliner City: Steine auf drei Delegierten-Hotels / Am Ende wird auch "Engel Martha" festgenommen
Aus Berlin Wolfgang Gast
Schon seit Stunden stehen in der Berliner Innenstadt verstreut die verschiedensten Gruppen von IWF-GegnerInnen. Rund um den Bahnhof Zoo, den Breitscheidplatz, den Kurfürstendamm und den Wittenbergplatz sperren Polizeieinheiten die Straßen, treiben die DemonstrantInnen mit Schlagstockeinsatz von den Fahrbahnen und Kreuzungen. Für jede aufgelöste Versammlung entsteht an anderer Stelle eine neue. Ein Bild, das die Ku'damm-Bummler seit Samstag an jedem Tag zu sehen bekommen. Doch der Mittwoch abend wird sich anders entwickeln als die vorigen.
Gegen 20Uhr, auf dem Ku'damm, Ecke Joachimsthalerstraße, warten mehrere hundert auf weitere Ereignisse. Und diese beginnen. Es erscheint ein Engel hoch auf einem Zirkusrad mit mächtigen Flügeln, einem glitzernden Heiligenschein und einer brennenden Kerze auf dem Kopf. In einer Hand hält er einen Schild mit der Parole: „Bänker lernt teilen - den Ärmsten gehört das Himmelreich.“ Von oben herab stellt er fest: „Es ist alles etwas chaotisch hier, aber endlich passiert etwas.“ Die Stimmung unter den DemonstrantInnen ist gut, „Engel Martha“ erhält viel Applaus. Ganz besonders, als er erklärt, er werde den Bänkern ins Gewissen reden. Von Gottvater geschickt könne das nicht so weitergehen auf Erden. Deshalb werde er jetzt die Mächtigen der Finanzwelt in ihren Hotels besuchen. Und fährt eilends mit seinem Einrad weg. Auf einen solchen Anlaß haben alle gewartet. Im Dauerlauf bewegt sich der Zug auf die Hotels „Interconti“ und „Schweizerhof“ zu, in denen zahlreiche IWF- und Weltbankdelegierte untergebracht sind.
Die ganze Innenstadt ist von Polizeikräften belagert, aber wider Erwarten: der Weg ist frei, selbst vor den beiden Hotels sind keine Beamten zu sehen. Frontscheiben der dort abgestellten teuren Luxuslimousinen gehen zu Bruch, Türen und Kotflügel werden eingetreten; ein Demonstrant springt auf dem Dach eines Jaguars herum. Ein gellendes Pfeifkonzert schreckt die Hotelgäste auf. Die Polizei wird völlig überrascht; Farbbeutel und Flaschen fliegen an die Hotelfassaden. Die Scheiben des „Schweizer Hofs“ sind dicker als die des „Interconti“, wo Glasbruch entsteht.
Überrascht sind auch die Demonstranten. Unschlüssig stehen sie vor dem Hotel herum und warten - wie das Kaninchen auf die Schlange - auf die Ordnungshüter. Als diese eintreffen, ist die Eskalationsschraube eine Umdrehung weiter angezogen. Die Polizisten der Sondereinheit „EX“ springen mit gezogenen Knüppeln aus den Transportern, massiver Schlagstockeinsatz treibt die IWF-GegnerInnen aus der Straße. Durch die Gasse bis zum Landwehrkanal gejagt, bleiben Einzelne nach dem Polizeieinsatz mit Kopfplatzwunden liegen. Binnen kürzester Zeit ist die Zufahrt zu den Hotels von Einsatzwagen verstellt, Hotelgäste stehen ratlos an den verbeulten Fahrzeugen.
Noch ein zweiter Durchbruch durch das Sicherheitskonzept gelingt den IWF-GegnerInnen. Denn kurze Zeit später formiert sich am Breitscheidplatz erneut ein Demonstrationszug. Zu flexibel sind DemonstrantInnen, zu starr der riesige Polizeiapparat. Es gelingt etwa 200 Teilnehmern, vor das „Theater des Westens“ zu ziehen. Vereinzelt fliegen Steine in Richtung des Foyers, fast zeitgleich trifft eine Fahrzeugkolonne der Polizei ein. Eingeschlagen wird jetzt auf alles, was sich auf der Straße bewegt. Der Demonstrationszug wird weggeprügelt, Steine fliegen auch noch auf das Hotel „Kempinski“, einzelne versuchen, über eine Baustellenabsperrung zu klettern und zu entkommen. Die Beamten setzten nach, die Baustelle erweist sich als Sackgasse. Es wird erst geprügelt und dann festgenommen. Eine Fahne am Theater kündet derweil vom Stück „Ein Käfig voller Narren“, das heute abend von den Bänkern besucht wird. Auf der Straße: ein Käfig voller Gefangener. Wahllos aus der Demonstrantenschar herausgegriffen, sind 100Meter hinter der Kulturstätte 65 Menschen eingekesselt. Sie werden laut Polizei zur „Freiheitsentziehung“ abtransportiert.
Festgenommen wird am Ende auch Engel Martha. Den „Hilfe„ -Rufen aus dem Kessel folgend, radelt er mit seinem Einrad an die Polizeiabsperrung, begutachtet die Lage und stellt traurig fest: „Ich verstehe gar nicht, was hier vor sich geht.“ Trost spendend („Es wird schon wieder alles gut“) radelt er davon, vorbei an zwei Wasserwerfern und über 40 Mannschaftswagen, die zwischenzeitlich beim Theater zusammengezogen sind. Dort wird er vom Hochrad gezerrt und abgeführt.
An diesem Tag werden werden nach Angaben des Ermittlungsausschusses insgesamt 310 Personen festgenommen. Bereits am Mittag verhaftete die Polizei an der S-Bahn -Brücke Wilmersdorferstraße 95 Frauen und zuletzt werden am Breitscheidplatz gegen ein Uhr morgens nochmal 46 Passanten wahllos aus dem Touristengetümmel heraus „zur Gefahrenabwehr“ in Polizigewahrsam gesteckt.
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