Jeden Sonntag Krieg im Wedding

■ Kinder simmulieren auf einem verwilderten Gelände Angriff und Verteidigung / Mit Ausrüstungen aus Army-Shops gegen den „Feind“

„Um zwei Uhr geht der Krieg los, dann kommen die Großen mit den Helmen“, sagen zwei kleine Jungs, die sich, voll ausgestattet mit Militäruniformen, gerade ein Loch in den Sand buddeln. Ihre Schußwaffen bestehen zwar aus Plastik, aber das ist auch alles, was unecht ist an ihrer Ausrüstung. Olivgrüne Tarnanzüge, das Koppel mit Patronenhalter locker um die kleinen Hüften geschwungen, diverse Ordens- und Rangabzeichen auf der Brust, Wurfmesser, Spaten, Spitzhacke und Armee-Mütze. Mit Gejohle kommen ein paar weitere Jungs aus einem Gebüsch gesprungen: Auch sie tragen mit Begeisterung Uniformteile. Kinder spielen Krieg - im Wedding.

Fast jeden Sonntag trifft sich eine Horde von rund 20 Lausebengeln auf dem „Crossberg“, wie in der Gegend ein großes verwildertes, hügeliges Grundstück genannt wird, bei dessen Umzäunung sich hier und da ein Schlupfloch finden läßt. Die meisten Kinder nutzen das sandbergige Gelände für harmlose Spiele wie Radrennen oder Verstecken. Durch das wild wuchernde Gebüsch ziehen sich Trampelpfade, steile Abhänge, ein paar Mauerreste eines vermutlich im Krieg zerstörten Gebäudes. Im Gestrüpp und Sand finden sich ab und zu gegrabene Schießscharten oder Unterstände, die aus Gerümpel gebaut sind. Verpackungsreste von China-Böllern und zerfetzten Knallkörpern, freigegeben ab 18 Jahren, liegen verstreut herum. Auf der gelockerten Erde zeichnen Fußspuren von Kampfstiefeln den Weg zu verkohlten Resten eines Lagerfeuers. Ein Hauch von Abenteuerromantik weht durch die Stille, als plötzlich Maschinengewehrgeknatter losgeht. Die Großen tauchen auf, der Krieg beginnt.

„Wir kämpfen hier, die Amis gegen die Russen oder die Deutschen gegen die Russen, egal, wie wir Lust haben, wer stärker ist, wird Sieger“, erklären die 15jährigen, ebenfalls in voller Montur und bis an die Zähne bewaffnet. Ihre Ausrüstungen holen sie sich aus Army-Shops oder vom Flohmarkt. „Da habe ich letztens eine Wurfaxt gesehen, die möchte ich gerne haben“, erzählt der zwölfjährige Andi mit leuchtenden Augen seinen Spielkameraden. Diese verteilen sich nun im Gebüsch und starten ihre Gefechte. Auf leisen Sohlen pirschen sie sich an: „Achtung, Überfall, ihr seid jetzt unsere Gefangenen.“ Kommandos werden gebrüllt, Feinde „erschossen“. Die Jungs kämpfen stark, mit ernsten Mienen und erheben die Hand zum Gruß, allerdings zum Glück nicht steil in die Luft, sondern soldatisch an die Mütze.

Denn politische, gar faschistische Vorbilder haben diese Kinder und Jugendlichen nicht. Sie wollen sich nur groß und erwachsen fühlen, und die Erwachsenenwelt zeigt ihnen schließlich, wie man Krieg führt. Ob Militärputsch oder Stellungskämpfe, die durch das Fernsehen in die Kinderstuben flimmern, ob Gewaltvideos oder aber „besonders“ ausgezeichnete Rambo-Filme - die gewaltigen Eindrücke scheinen zum Nachahmen zu animieren.

Pünktlich zur Abendbrotszeit verlassen dann die Jungs „ihr Schlachtfeld“. Die Woche über werden sie mit ihren Schulfreunden friedlichere Spiele treiben. Doch am nächsten Wochenende wird im Wedding wieder der Krieg erklärt.

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