Sowjet lehnt Wirtschaftsplan der Bürokraten ab

■ Oberster Sowjet weist Pläne der zentralen Planungsbehörde „Gosplan“ zurück / Kürzung der Investitionsmittel für Landwirtschaft abgelehnt, um Landflucht zu begrenzen und Versorgung zu erhöhen / Bewährungsprobe für Gorbatschows Ex-Konkurrenten Ligatschow

Berlin (taz) - Nach einem Bericht der Regierungszeitung 'Iswestija‘ vom Montag hat der Oberste Sowjet erstmals einen Wirtschaftsplan zurückgewiesen: den von der zentralen Planungsbehörde Gosplan vorgelegten Landwirtschaftsplan für das kommende Jahr. Mitglieder der entsprechenden Vorbereitungskommission des Sowjet rügten vor allem die vorgesehene Kürzung der Investitionsmittel für die Landwirtschaft. Zum zweiten Male ergriff das höchste parlamentarische Organ der Sowjetunion damit in diesem Jahr die Initiative gegen einen Vorschlag der Planbürokratie. Bereits im Juni war ein Gesetzesvorschlag zur Bildung von Kooperativen an die Ausschüsse zurückverwiesen worden. Damals ging es um den Schutz der Kooperativen vor überhöhten Steuern, um den Schutz der Produzenten an der Basis vor wirtschaftlicher Ausbeutung durch die Zentralmacht. Hintergrund der aktuellen Entscheidung des Obersten Sowjet ist die zunehmende Landflucht, vor allem im Norden der russischen Föderation. Die jahrzehntelange chronische und psychologische Abwertung landwirtschaftlicher Arbeit zeigt dort zu krasse soziale Folgen. Vielen Eltern erscheint nur noch das Stadtleben als wünschenswerte Zukunftsperspektive für ihre Kinder. Als Argument gegen den von der Behörde vorgeschlagenen Plan zitierten die Delegierten Untersuchungen der zentralen Landwirtschaftsbehörde, denen zufolge nur für die Finanzierung eines Sozialprogrammes für die Dörfer bis zum Jahr 2000 rund 380 Milliarden Rubel aufgewandt werden müßten. Im gegenwärtigen Fünfjahresplan seien jedoch lediglich 60 Milliarden Rubel für diesen Zweck bereitgestellt worden. Zusätzlich wurde eine bessere Lebensmittelversorgung gefordert. Nach Hochrechnungen der 'Iswestija‘ werden die Ernteerträge in der Sowjetunion bei Getreide, Zuckerrüben und Kartoffeln auch in diesem Jahr hinter den Planzielen zurückbleiben. Die Zuwachsraten seien weiterhin niedrig. Die Schere des Lebensstandards und des Produktionszuwachses zwischen Stadt und Land, die bisher weit auseinanderklafft, bildet eine der Hauptbedrohungen für Gorbatschows Reformpolitik. Um Großstädten die gewünschte Versorgung mit Gütern des täglichen Bedarfes zu garantieren, dürfen die Landbewohner nicht chronisch unterversorgt bleiben. Die Entscheidung des Obersten Sowjet wendet sich somit gegen die unrealistischen immensen Zuwachsraten, die bisher von der Gosplan-Behörde angestrebt wurden, eröffnet aber gleichzeitig bessere Chancen für einen realen landwirtschaftlichen Zuwachs. Der neue Vorsitzende der ZK -Kommission für Landwirtschaft und bisherige Parteiideologe, der konservative Jegor Ligatschow, erhält somit Unterstützung von unerwarteter Seite. Auch wenn er sich in der politischen Sommerpause gegen Gorbatschows Politik der Kooperativen und Familienbetriebe in der Landwirtschaft ausgesprochen hat: Eine Option des Obersten Sowjet gegen Steuerabschöpfungen und für Investitionen auf diesem Wirtschaftssektor kommt auch den Staatsbetrieben zugute und kann seine Position im jetzigen Amt nur stärken.

Barbara Kerneck