: Reproduktionsmedizin in der Grauzone
Ärzteschaft bewahrt Stillschweigen über eine unwillkommene Folge von In-Vitro-Fertilisation, den „selektiven Fetozid“ Um Mehrlingsschwangerschaften zu vermeiden, werden „überzählige“ Embryonen in der Frühschwangerschaft abgetrieben ■ Von Anne Noller
Die moderne Reproduktionsmedizin stellt ihre VertreterInnen vor ein unwillkommenes und unerwartetes ethisches und juristisches Problem: Die „selektive Abtreibung“ nach In -Vitro-Fertilisation (IVF). Um die Erfolgsquote zu erhöhen, werden bei Reagenzglasbefruchtungen immer mehrere befruchtete Eier bei der Patientin eingesetzt. Dadurch ist es in den vergangenen Jahren zu einem sprunghaften Anstieg von Mehrlingsschwangerschaften gekommen: in der Bundesrepublik liegt die Zahl der Drillinge 60mal, die der Fünflinge 300- bis 500mal höher als je zuvor. Das gesundheitliche Risiko und die Belastung für die Frauen sind beträchtlich. Auch mögliche Schädigungen der Mehrlinge sind nicht auszuschließen. Um dieser Probleme Herr zu werden, gibt es auch in bundesdeutschen Kliniken die Praxis, „überzählige“ Embryonen abzutreiben. Diese Vorgehensweise der MedizinerInnen spielt sich in einer Grauzone ab. Offiziell wird in der Ärzteschaft Stillschweigen bewahrt. Beim „Fetozid“, wie diese Form der Abtreibung im Fachjargon genannt wird, wird der Embryonen in der Frühschwangerschaft auf Zwillinge oder Drillinge reduziert. Dazu wird den „überzähligen“ Embryonen eine Kochsalzlösung oder ein lokales Betäubungsmittel injiziert. Die Injektion erfolgt durch die Bauchdecke der Frau und trifft immer den Embryo, der am nächsten zur Bauchdecke liegt. Auch bei einer weiteren Methode, mit der Sterilität geheilt werden soll, der Hormonbehandlung, kommt es zu Mehrlingsschwangerschaften. Im Gegensatz zur IVF-Behandlung sind Mehrlinge nach Hormonbehandlungen jedoch „vermeidbare Pannen“, so Professor Daume, Leiter der gynäkologischen Abteilung der Uniklinik Marburg. Denn nach einem stimulierten Eisprung kann die Zahl der gesprungenen Eier durch Ultraschall festgestellt werden. Durch Enthaltsamkeit in den „gefährlichen Tagen“ kann die Befruchtung der Eier vermieden werden.
Nach Reagenzglasbefruchtungen sind Mehrlingsschwangerschaften jedoch nicht „vermeidbar“ und dies hat unmittelbar mit der niedrigen Erfolgsquote von IVF zu tun. Es kommt durchschnittlich nur in zehn bis 15 Prozent der Fälle zu der erhofften Schwangerschaft. Der Erfolg der Behandlung ist abhängig von der Anzahl der befruchteten Eier, die in den Mutterleib zurückgeführt werden. Wird nur ein Ei übertragen, so liegt die zu erwartende Erfolgsquote bei etwa drei Prozent. Nach dem Transfer von drei oder gar vier Eiern soll die Erfolgsquote auf über 20 Prozent klettern. Von den „Retortenmüttern“ gehen dann allerdings 20 Prozent mit mehr als einem Kind nach Hause.
Einige Kliniken, die sich auf IVF-Behandlungen spezialisiert haben, sind mittlerweile dazu übergegangen, nur noch drei bis vier befruchtete Eier einzusetzen. So in der Universitätsklinik Marburg, so auch in den Berliner Kliniken. Dort werden nach Angaben von Dr.H.Kentenich, Oberarzt an der Frauenklinik in Charlottenburg, lediglich drei befruchtete Eier transferiert.
Während in amerikanischen Fachblättern die „Reduktion von Embryonen“ nach IVF in aller Offenheit beschrieben und diskutiert wird, dringt aus westdeutschen Medizinerkreisen nichts davon in die Öffentlichkeit. Der Deutsche Ärztetag hat sich zwar schon 1985 um Richtlinien bemüht, und auch die Bundesärztekammer hat jüngst einen Ausschuß mit dem Problem betraut. Dennoch behaupten Reproduktionsmediziner, mit dem Problem noch nicht konfrontiert worden zu sein. „Ich habe einmal vielleicht und dann nie wieder etwas davon gehört“, weicht Professor Daume aus. Informationen zur selektiven Abtreibung würden in der Bundesrepublik „gesprächsweise weitergegeben“. Weniger zurückhaltend äußerte sich jüngst Dr.G.Kindermann von der Frauenklinik in München. Er bestätigte, daß auch in der Bundesrepublik selektiver Fetozid praktiziert wird.
Denn wer im internationalen Vergleich mit hohen Erfolgsquoten aufwarten will, muß in die Behandlung selektive Abtreibung einkalkulieren. Neben den ethischen Fragen bereitet den MedizinerInnen auch die rechtliche Situation Probleme. Wie jede andere „Tötung der Leibesfrucht“, so das Justizministerium, unterliegt auch selektive Abtreibung dem Paragraphen 218. Selektiver Fetozid sei grundsätzlich strafbar, es sei denn, die Mehrlingsschwangerschaft führe zu einer Lebens- und Gesundheitsgefährdung der Schwangeren. Ansonsten seien solche Abtreibungen nur in Einzelfällen begründbar. Dies sei zum Beispiel der Fall, wenn zu befürchten ist, daß die Mehrlinge sich im Mutterleib gegenseitig so beengen, daß nicht behebbare Gesundheitsschäden zu befürchten sind.
Entsprechend vorsichtig wird auf Medizinerseite argumentiert. Lediglich „im weitesten Sinne“ sei der selektive Fetozid durch den Paragraphen 218 abgedeckt. Denn das Indikationenmodell des Paragraphen 218 wurde 1976 eingeführt, zu einer Zeit, als die „Erfolge“ der Reproduktionsmedizin noch nicht vorhersehbar waren. In Frage kommt für die MedizinerInnen die medizinische oder die eugenische Indikation. Die medizinische kann dann zum Tragen kommen, wenn Gefahr für die Mutter besteht, zum Beispiel bei drohender Gebärmutterruptur - dem Reißen der Gebärmutter. Eine solche Gefahr kann, muß aber nicht bei jeder Mehrlingsschwangerschaft gegeben sein. Die eugenische Indikation trifft nur dann zu, wenn die Gefährdung des Kindes oder die nicht behebbaren Schäden bereits im Mutterleib abzusehen sind. Die Gefahr einer schweren Behinderung von Mehrlingen tritt aber erst nach der Geburt auf. Denn mit der Zahl der Föten sinkt die Tragezeit Mehrlinge werden in der Regel zu früh geboren. Aufgrund ihrer unterentwickelten Organe sinkt ihre Überlebenschance und wächst die Gefahr einer schweren Behinderung.
Der selektive Fetozid stellt nicht nur die Methoden der ReproduktionsmedizinerInnen, sondern auch ihre Omnipotenzgelüste in Frage. Eine Methode, die in ihrer Propaganda Wunschkinder verspricht, muß den unerwünschten Kindersegen durch die Nadel wieder beseitigen. Die oft jahrelangen und von Frauen oft als schmerzhaft und demütigend empfundenen Behandlungen machen IVF noch fragwürdiger. Kritik ist auch im Blick auf die unübersehbaren Folgen der Embryonenforschung angebracht, der durch IVF die Türen geöffnet wurden.
Kinderlose Ehepaare hoffen trotzdem ungebrochen auf das Reagenzglas. Andere Methoden - zum Beispiel psychotherapeutische Behandlung - werden in der Öffentlichkeit kaum propagiert. Dabei ist in 50 Prozent aller Fälle von Kinderlosigkeit kein organischer oder hormoneller Defekt festzustellen. Die weniger aufwendige und körperlich nicht belastende Methode der Psychotherapie erzielt erstaunliche Erfolge. Eine amerikanische Untersuchung kam vor kurzem zu dem Ergebnis, daß die psychotherapeutische Behandlung weitaus bessere Ergebnisse erzielt als IVF.
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