piwik no script img

Hessen-SPD noch immer ohne Schwung

■ Landesparteitag der hessischen SPD zu Kommunal- und Europawahlen / Frauen kritisierten Europa-Wahliste: Unbekannter Betriebsrat auf Platz Eins / Heidemarie Wieczorek-Zeul fordert „neues Denken“

Von Klaus-Peter Klingelschmitt

Niestetal (taz) - Der ordentliche Landesparteitag der hessischen Sozialdemokraten war für die alte Tante SPD kein Jungbrunnen - trotz Rock und Pop und „Rumtata“. Zwischen den Klängen der deutsch-türkischen Rockband „Morgenland“ und dem Gehopse der freien Turner aus Niederzweren, die wohl die Bandbreiten des sozialdemokratischen Kulturverständnisses demonstrieren sollten, richtete der Parteivorsitzende Hans Krollmann den „Blick nach vorn“, auf die Kommunalwahlen im März '89 und auf die dann im Juni folgenden Europawahlen.

„Immer mehr spricht für uns“, war das Motto des Parteitages, doch als es um Europa ging, wollte keiner für die Sozialdemokraten sprechen. Der Chef der „sozialistischen Internationale“ im Europaparlament, Rudi Arndt, fand bei den 197 Delegierten (Frauenanteil 23 Prozent) mit seiner Aufforderung zur Generaldebatte kein Gehör. Trotz der von mehreren Frauen deutlich vorformulierten Kritik am Europa -Listenvorschlag des Parteivorstandes, der den in Südhessen unbekannten Betriebsratsvorsitzenden Karl-Heinz Mihr zum Listenführer ernannte und der eigentlich favorisierten Europaabgeordneten Barbara Schmidbauer nur den dritten Platz anbot, drängte es die Delegierten zur Abstimmung. Mit 23Gegenstimmen und sieben Enthaltungen akzeptierte der Parteitag mehrheitlich den Listenvorschlag des Landesvorstandes.

Krollmanns Grundsatzreferat mit dem Titel Die Hessen-SPD vor der Kommunalwahl brachte die Delegierten danach auch nicht in Schwung, so daß der CDU-Beobachter aus dem Landtag hämisch auf seinem Skriptblock notieren konnte: „Ein Parteitag der gähnenden Perspektivlosigkeit.“ In der Tat scheint die hessische SPD - nach dem Machtverlust 1987 noch immer nicht in die Gänge gekommen zu sein. Ein Defizit, das von Heidi Wieczorek-Zeul offen benannt wurde. „Um die Mehrheiten kämpfen“, lautete ihr Credo, denn daß die CDU in einer „Wertekrise“ (Krollmann) stecke, mache die Sozialdemokraten noch nicht automatisch zu den Gewinnern der Wahlen. Wieczorek-Zeul forderte das „neue Denken“, zu dem ein Seitenhieb auf die Europawahlliste - das „patriarchalische Denken“ nicht mehr gehöre. Andere Delegierte gingen mit der Landtagsfraktion der Partei hart ins Gericht. Insbesondere der Diätenskandal habe den Sozialdemokraten an der Basis schweren Schaden zugefügt, meinte etwa ein Jungsozialist, der an den kitzeligen Stellen seines Redebeitrags mehr Beifall erhielt als zuvor der Parteivorsitzende.

Als zum Abschluß des Parteitages das weiche Wasser den Stein brechen durfte und einer Trachtenkapelle den Delegierten mit bauchfellstrapazierenden Tubaklängen geholfen hatte, die proletarische Erbsensuppe der Freiwilligen Feuerwehr Niestetal zu verdauen, eilten die Sozialdemokraten schließlich nach Hause, ohne einen neuen Spitzenkandidaten für die Hessenwahlen 1991 gekürt zu haben.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen