Die baltischen Völker in neuen Fronten

■ Nach Litauen und Estland haben sich jetzt auch in Lettland die unabhängigen Gruppen zur „Volksfront“ erklärt

Es regt sich was im Baltikum: Unabhängige Gruppen und Parteimitglieder schlossen sich in der vergangenen Woche und am Wochenende zu „Volksfronten“ zusammen. Besonderes Kennzeichen: In den drei baltischen Republiken sind Ökologie, Perestroika und Nationale Autonomie noch auf einen Nenner zu bringen.

Als Pfarrer Juris Rubinis gestern morgen den Gottesdienst im Dom zu Riga zu zelebrieren begann, waren sich die weit mehr als tausend Gottesdienstbesucher der historischen Tragweite dieses Ereignisses bewußt. Zum ersten Mal wird in der Evangelisch-Lutherischen Kirche, die seit 1962 zum Konzertsaal umfunktioniert war, ein Bittgottesdienst abgehalten. Und Pfarrer Rubenis, selbst Gründungsmitglied der am Wochenende gegründeten lettischen Volksfront, ließ für deren Gelingen beten.

900 Delegierte der etwa 2.300 unabhängigen Gruppen, die mehr als 85.000 Mitglieder repräsentieren, waren am Samstag zusammengekommen, um die Volksfront zu gründen. Und über 100. 000 Demonstranten hatten sich schon am Freitag trotz strömenden Regens in einem Waldpark der Stadt versammelt. In den Debatten und Diskussionsbeiträgen klang immer wieder an, worum es der lettischen Volksfrontbewegung geht: Wie schon in der seit einigen Tagen bestehenden Volksfront in Estland und einer parallel im Gründungsprozeß befindlichen Volksfront in Litauen wollen die Demonstranten die Reformpolitik Gorbatschows unterstützen und zugleich die seit Jahren thematisierten Probleme der lettischen Sowjetrepublik lösen. Mehrere Redner, so der Rundfunkjournalist Janis Veveris, hätten dabei die Wirtschafts- und Agrarpolitik der Regierung scharf angegriffen und mehrmals auf das historische Unrecht hingewiesen, das allen drei baltischen Republiken widerfahren ist: der Stalin-Hitler-Pakt von 1940, der der Unabhängigkeit dieser Länder ein Ende machte. Auch die Zerstörung des Landes durch die Umweltverschmutzung wurde zur Sprache gebracht. Doch ein Thema durchzog die Redebeiträge wie ein roter Faden: Die lettische Bevölkerung fürchtet um ihr nationales Überleben. Die Russifizierung des Landes soll nicht weiter hingenommen werden.

Lettisch, so die Forderung, soll wieder gleichberechtigte Amtssprache werden. Und nachdem in Estland und in Litauen die nationalen Sprachen schon wieder zu Amtssprachen erhoben wurden, zweifelt niemand mehr daran, daß auch in Lettland der Forderung entsprochen wird. Schon am Freitag erörterte der Oberste Sowjet der Republik einen Gesetzentwurf, und seit Donnerstag ist entschieden, daß die lettische Nationalflagge neben der sowjetischen Fahne bei öffentlichen Anlässen offiziell zugelassen ist. In den letzten Wochen waren in der Presse des Landes zahlreiche Berichte über Volksfronten „vor Ort“ erschienen. So drängelten sich mehr als 1.000 Menschen am 16. September im Saal des Kulturzentrums des Rayons Tukum, um dort die örtliche Gliederung der Volksfront zu gründen. 882 Mitglieder umfaßt jetzt die Kartei, 250 Arbeiter, 78 Partei- und Komsomolmitglieder, 8 Hausfrauen, 48 Schüler, 2 Gläubige und 82 Rentner sind dabei.

Ojars Rozitis/er