Der rasende Stillstand

■ Zur Frankfurter Premiere von „Krankheit der Jugend“ / „Die Gerechten“

Die Verlegenheit, die über die deutsche Literatur der späten achtziger Jahre gekommen ist, hängt augenscheinlich vor allem damit zusammen, daß niemandem eine Geschichte einfällt, die uns über die Wirklichkeit mehr mitzuteilen imstande wäre als Tagesschau und Wetterkarte.“ Das Urteil der 'FAZ‘ trifft gewiß auch für das Theater zu, ganz besonders für das Frankfurter Schauspiel, das in den letzten Jahren von Oper und Ballett auf den dritten Platz verwiesen wurde.

Jetzt haben der Dramaturg Heiko Holefleisch und der junge Regisseur Uwe-Eric Laufenberg einen weiteren Versuch unternommen, Theater auf der Höhe der Zeit zu machen - keine einfache Aufgabe in einer Zeit, die rasend stillzustehen scheint. In provokativer Absicht banden sie zwei Theaterstücke - Krankheit der Jugend von Ferdinand Bruckner und Die Gerechten von Albert Camus - zu einem zusammen, um sie miteinander zu konfrontieren, sie gegenseitig lesbar zu machen.

In Bruckners Stück von 1925 toben Studentinnen und Studenten an den Abgründen von Lebenslust und Todessehnsucht entlang - existentialistisch angehauchtes Boulevardtheater -, während in Camus‘ Stück, das auf Dostojewski Dämonen beruht, eine Gruppe von Sozialrevolutionären im zaristischen Rußland die Fragen der Legitimität von Gewalt, der Rechtmäßigkeit des Mordens für zukünftige Gerechtigkeit in strenger Diktion und blutiger Aktion abhandelt.

Die Aktualität dieser Stücke liege in der Suche nach dem Punkt, wo „Bewußtsein und die objetive Möglichkeit zu handeln endlich zusammenfallen“, die auch unsere sei: behauptet der Dramaturg. Darum auch spielt die Inszenierung in der Gegenwart. Doch die Idee blieb in der dünnen Theaterluft ebenso hängen wie das große Vierfarbplakat an den Litfaßsäulen Frankfurts, auf dem noch einmal Ulrike Meinhof im Polizeigriff in die Wirklichkeit der späten achtziger Jahre blickte.

Nicht einmal postmodernes Bühnen-Weiß, Disco-Musik und die Konterfeis von Strauß und Kohl konnten die Kluft zwischen dem Terror von 1905 und dem von 1988, zwischen lustvoller Morbidität der Zwanziger und präapokalyptischer Video-Welt der Achtziger nicht überbrücken. Die Leitsentenz des Jugenddramas „Entweder man verbürgerlicht, oder man begeht Selbstmord“ ist mit der nahezu flächendeckenden Verbürgerlichung unserer Gesellschaft obsolet geworden, noch mehr vielleicht mit der stets präsenten nuklearen Selbstmorddrohung der Menschheit. Der Diskurs der Revolutionäre von 1905 war schon in den vierziger Jahren zum letzten Mal wirklich aktuell, in seiner bundesdeutschen RAF -Variante spätestens zum Ende der siebziger Jahre restlos anachronistisch.

Gerade im Rückgriff auf vermeintlich fundamentale Konflikte, das zeigte die dreistündige Premiere im Frankfurter Kammerspiel, erweist sich die Einzigartigkeit jeder Zeit. So hat das „Ineinanderschneiden“ von Szenen aus den beiden - jeweils erheblich gekürzten - Stücken nur bewiesen, daß die Frage nach dem Subjekt und seinen Handlungsmöglichkeiten sich heute ganz anders stellt als zu Beginn des Jahrhunderts, daß selbst das Jahr 1977 stets im Ungefähren mitschwingend, einer anderen Epoche angehört. Deshalb klangen viele Sätze und Dialoge papieren, phrasenhaft, merkwürdig unecht, wie von weit her gesprochen, längst abgehandelt.

Daß Peinlichkeiten sich in Grenzen hielten und zuweilen doch dichte, dann aber eher „klassische“ Momente entstanden, lag an der Qualität der Schauspieler und der Regie Laufenbergs, der aus dem falschen dramaturgischen Ansatz noch das beste zu machen versuchte.

Die großen Leidenschaften und Menschheitsfragen sind seit dem „Geiseldrama von Gladbeck“ und der koordinierten Aktion Robbensterben endgültig von der Bühne. Aus der Verlegenheit, die das deutsche Theater mit der Literatur teilt, käme mann vielleicht dann heraus, wenn irgend jemand imstande wäre, die Geschichte des Sommers 1988 zu erzählen - vom Kälbermastskandal über Werners Wettrennen mit Holgi bis zum IWF-Tanz der Vampire. Bis es soweit ist, werden weitere Reminiszenzen an die gute alte Zeit für eine „Aktualisierung“ herhalten müssen, die keine Gegenwart hat. Von Zukunft ganz zu schweigen.

Reinhard Mohr