: St.-Jürgen: „Wie im tiefen Hinterland“
■ Krankenhaus-Kontrolleure vorm Untersuchungsausschuß: Verwaltungsdirektor verfügte nicht „über elementarste Daten für wirtschaftliche Betriebsführung“ / Senatorische Stellungnahme zu 2,8-Millionen-Gutachten unterblieb aus Opportunitätsgründen
Ortwin Schmucker ist ein leicht dicklicher Mensch mit etwas teigigem Gesicht, aus dessen wäßrigen Augen hinter einer Randlosbrille das unglückliche Bewußtsein eines auf unteren Sprossen der Karriereleiter hängengebliebenen Verwaltungsangestellten aus Fallada-Romanen zu sprechen scheint: Sobald er die überschaubare Sicherheit seiner vier Bürowände verläßt, muß diesen Mann die Frage umtreiben: „Kleiner Mann, was nun?“
Dr. Peter Kracht ist ein Mann von eloquenter Umständlichkeit, Liebhaber von bedeutungsschwangeren Fremdworten, die Managerqualitäten versprechen, und syntaktischer Bauherr von präzisen Sätzen mit auffällig vagem Gehalt.
Lieselotte Steup trägt schwarze Nylons, sportiv geschnittene Pepita-Kostüme und rotlackierte Fingernägel, die ihr äußerlich den Schein der Wichtigkeit einer Diskretion gewöhnten Chefsekretärin verleihen, dessen Rechtfertigung anzutreten allerdings ihre Sätze ebenso wie ihr ausführliches Schweigen weitgehend schuldig bleiben.
Die drei Herrschaften, und zwar in dieser Sitzordnung, saßen gestern dem Untersuchungsausschuß „St.-Jürgen-Straße“ gegenüber. Alle drei gehören zu einem Wirtschaftsprüfer-Team des Frankfurter Wirtschaftsberatungs-Unternehmens Ernst & Whinney (E & W), das für insgesamt 2,86 Millionen Mark von Dezember 1981 bis März 1987 sämtliche Bremer Krankenhäuser unter die Lupe nahm und seine Erkenntnisse auf rund 3.000 Seiten, geheftet in acht Bänden, aufschrieb. Ein Schwerpunkt der Arbeit: Die Untersuchung der Organisationsstrukturen und -schwächen im Zentralkrankenhaus St.-Jürgen-Straße.
Für das gute Geld der Krankenkassen leisteten die Wirtschaftsprüfer harte Arbeit. „Die St.-Jürgen-Klinik war das schwierigste Krankenhaus, das wir je untersucht haben“, berichtete gestern E&W-Geschäftsführer Peter Kracht dem Ausschuß und erinnerte sich seufzend: Mehrere Stunden habe auf seine Bitte die Verwaltungsdirektion z.B. Schränke und Schubladen nach einer Statistik über die durch
schnittliche Bettenbelegung durchstöbert und - schließlich gefunden. Nicht zu finden, weil schlicht nicht vorhanden, waren Aufstellungen über die Quadratmeterzahlen, die der Reinigungsdienst täglich zu wischen und zu desinfizieren hatte. Wochenlang mußten die Gutachter schließlich recherchieren, um brauchbare Personalstatistiken in die Hand zu bekommen. Ungeklärt bis heute ist z.B. die Frage, wieviele Patienten im St.-Jürgen-Krankenhaus ambulant behandelt wurden. „Die Kenntnisse über betriebsinterne Vorgänge wurden nicht mal
den Ansprüchen gerecht, die man an eine Klinik im hessischen Hinterland stellen würde.“
Über die persönliche Verantwortlichkeit für das allgemeine Durcheinander in der Krankenhausleitung schweigt sich das Gutachten zwar wohlweislich aus, läßt jedoch zwischen den Zeilen keinen Zweifel am Namen des Hauptverantwortlichen: Aribert Galla. In die gleiche Richtung weisen auch die Verbesserungsvorschläge, denen sich der siebte Band des Gutachtens widmet: Zum Beispiel die Einführung von betriebsinternen Revi
sonen und externen Kontrollen bei der Materialbeschaffung, der Lagerhaltung und der Vergabe von Großaufträgen. Peter Kracht humorig, aber eindeutig: „Sie können schließlich den Hund nicht seinen eigenen Knochen bewachen lassen.“
Als 1987 endlich der Abschlußbericht der Gutachter vorlag, war eigentlich eine Stellungnahme des damaligen Senators für Gesundheit und Sport, Herbert Brückner, vorgesehen. Sie unterblieb. Wie ein behördeninterner Vermerk verrät, weil „sie möglicherweise verpflichtend
gewirkt hätte und Dritte sich darauf hätten berufen können.“ Heute gleichwohl sichtbares Ergebnis der Gutachtertätigkeit: Die Klinik wurde verselbständigt und aus der Obhut öffentlicher Trägerschaft entlassen. Ob es dazu eines 2,8 -Millionen-Gutachtens bedurft hätte, darf allerdings bezweifelt werden. Die Verselbständigung der Klinik war seit 1972 im Gespräch und schon einmal empfohlen worden. Von einem Gutachten des Wirtschaftsberatungs-Unternehmens „Treuarbeit“. Das war 1976.
K.S.
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