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US-Wahlkampf mit der Angst

Kann George Bush die Angst vor dem ökonomischen Niedergang besiegen? / Die Wirtschaftslage der USA wird von beiden Präsidentschaftskandidaten in völlig verschiedenen Farben gemalt / Bilanz der Reagan-Jahre gibt dem Optimismus Bushs nicht recht  ■  Aus Washington Stefan Schaaf

Die Amerikaner sind, das mag seltsam klingen, ein Volk von verängstigten Individuen; ihr Alltag steckt, so glauben sie, voller Bedrohungen. Sie haben Angst vor Bakterien und vor Straßenkriminalität, sie fahren nur mit Sturzhelm Fahrrad und verschanzen sich in ihren Suburbias, weit weg von den Ghettos der Unterklasse. Diese Ängste, ob rational oder irrational, unterliegen, wie fast alles in diesem Land, modischen Trends. Anfang des Jahrzehnts machten vor allem die Atomwaffen Angst, im Sommer 1985 fuhr aus Angst vor arabischen Terroristen kaum ein amerikanischer Tourist nach Europa, und mittlerweile führen Drogen die Angst-Hitliste an.

Die politischen Strategen Amerikas haben diese Ängste als gewaltiges Potential für den Präsidentschaftswahlkampf entdeckt. Als die Kandidaten der Demokratischen Partei im vergangenen Jahr ihre Strategien entwarfen, machte vor allem die wirtschaftliche Lage der Vereinigten Staaten Angst. Angesichts von Monat zu Monat wachsender Handelsdefizite setzte eine öffentliche Debatte über die schwindende Konkurrenzfähigkeit amerikanischer Exportprodukte ein. Mehrere Bücher, die eine bevorstehende Depression von der Größenordnung der Wirtschaftskrise der frühen dreißiger Jahre prophezeiten, wurden zu Bestsellern. Kurz darauf gab es den größten Börsen-Crash in der Geschichte der Wall Street. Jeder Amerikaner bekam die geschwundene Konkurrenzfähigkeit der US-Industrie täglich auf den Straßen und in den Kaufhäusern zu sehen: die kleinen Stadtflitzer der südkoreanischen Autofirma „Hyundai“ sind mittlerweile an jeder Ecke zu sehen, Importe aus Korea, Japan oder anderen südostasiatischen Staaten füllen die Regale der Computer und Stereo-Läden.

Produkte schlecht

Amerika gebe sich nicht genug Mühe, schrieben die Wirtschaftsexperten, die Produkte seien zu schlecht und zu teuer, das Management sei zu träge und investiere zu wenig in die industrielle Substanz des Landes. Einige Präsidentschaftsbewerber machten Importbarrieren anderer Länder für die Schwierigkeiten der US-Wirtschaft verantwortlich und schürten so einen ökonomischen Nationalismus.

Der industrielle Niedergang der USA machte sich auch an unzähligen Einzelschicksalen fest, die ihre gutbezahlten Jobs in der Auto- oder Stahlindustrie gegen lange Arbeitslosigkeit, eine ungewisse Zukunft oder bestenfalls niedrigbezahlte Aushilfsjobs eingetauscht hatten. Für viele Familien wurde es zweifelhaft, ob ihre Kinder den gleichen Wohlstand genießen würden, mit dem die Eltern-Generation rechnen konnte.

Bush in anderem Land

In der diesjährigen Wahlkampf-Rhetorik von Michael Dukakis klingt dies so: „Zu viele unserer Familien haben Mühe, mitzuhalten; sie stehen unter dem Druck der Veränderungen, fürchten um ihre Arbeitsplätze, bekommen immer höhere Kosten für Krankenversicherung, die Hypotheken ihrer Häuser oder die Ausbildung ihrer Kinder aufgebürdet und können keine erschwinglichen Kindertagesstätten finden.“ Das Land brauche wieder eine starke Hand im Weißen Haus, um die Handelspartner zu fairen Praktiken zu bewegen und um die Trägheit Reaganschen Laissez-faires durch eine neue aktivistische Politik zu ersetzen.

Während die Demokraten die Ängste der Mittelklasse um die Zukunft ihrer Kinder und des Landes auszunutzen versuchten, schürten die Republikaner die Befürchtungen vor einer Wiederholung der Carter-Jahre. Wenn man George Bushs Reden hört, scheint von einem ganz anderen Land die Rede zu sein: Unter Reagan erlebe Amerika einen seit fünf Jahren andauernden Wirtschaftsboom, Inflation und Arbeitslosigkeit lägen niedrig wie noch nie und 16 Millionen neue Arbeitsplätze seien geschaffen worden. Wer dem demokratischen Gerede von der Notwendigkeit einer wirtschaftlichen Kurskorrektur glaube, solle sich bitte an die ökonomische Bilanz der Carter-Administration erinnern: 13,5 Prozent Teuerung pro Jahr, fast zwanzig Prozent Zinsen auf Kredite und Hypotheken.

Die Wirtschaft, so prahlte George Bush auf dem republikanischen Parteitag im August, habe bereits auf der Intensivstation gelegen, als die Republikaner 1980 das Weiße Haus übernahmen, doch die Medizin sei gerade noch rechtzeitig verabreicht worden. Als man die Steuern gesenkt und staatliche Regulierungen aufgehoben habe, seien der Blutdruck und das Fieber gesunken; nun, da der Patient wieder gesund sei, wollten die Ärzte, die ihn krank gemacht hatten, den Fall erneut übernehmen. Die Entscheidung sei klar: unter einer Bush-Administration werde es nicht nur noch mehr neue Jobs, sondern auch weiterhin niedrige Inflationsraten und niedrige Steuerlasten geben.

Das klingt ganz wie eine Erfolgsbilanz, und als solche stellt sie sich auch für viele WählerInnen dar, die in „bright collar„-Jobs, also in Managementpositionen der Boom -Sektoren wie der Computer- und Dienstleistungsbranche beschäftigt sind.

Verschwiegen wird bei all der Carter-Verteufelung, daß in dessen Amtszeit mehr Arbeitsplätze pro Jahr geschaffen wurden als in den acht Reagan-Jahren. Vergessen scheint auch die Rezession von 1982, in die Reagans Anti-Inflationskurs das Land stürzte; verborgen bleibt vor allem die dunkle Seite der „Reaganomics„-Bilanz: ein gigantisches Defizit im Staatshaushalt sowie in der Handelsbilanz. Allenfalls Ökonomen sind von der Tatsache schockiert, daß die Vereinigten Staaten zwischen 1980 und 1988 vom größten Kreditgeber zum größten Kreditnehmer der Welt geworden sind und lateinamerikanische Staaten wie Mexiko oder Brasilien in der Auslandsverschuldung längst weit übertroffen haben. Reagan habe „einen Kredit auf die Zukunft aufgenommen und die Leute sich gut fühlen lassen“, sagt Carters Wirtschaftsberater Charles L.Schultze. Man könne aber nicht so tun, als ob das Land über eine überdimensionale Kreditkarte verfüge: „Irgendwann muß man alles zurückzahlen“.

Manchem demokratischen Politiker wird angst und bange bei dem Gedanken, daß es seine Partei sein könnte, die im nächsten Jahr den radikalen Kurswechsel aus der Schuldenmacherei der Reagan-Jahre durchsetzen muß, besonders, wenn die seit fast sechs Jahren andauernde Expansion der Ökonomie in eine Rezession umschlägt. Senator Proxmire aus Wisconsin etwa befürchtet, daß ein Dukakis -Erfolg der letzte demokratische Wahlsieg für vierzig Jahre sein könnte, weil die fiskalische Medizin, die der nächste Präsident verordnen muß, äußerst bitter schmecken wird. Carter-Berater Schultze stimmt dem zu: Reagans Nachfolger werde „die Schuld zugeschoben bekommen, und Reagan wird einen echten Coup gelandet haben“.

Weil den WählerInnen bis zum Wahltag derlei unpopuläre Zukunftsprognosen nicht zugemutet werden sollen, sind die beiden Kandidaten bisher äußerst vage, wenn es um die Beseitigung des Defizits im Staatshaushalt geht.

George Bush macht nur ein Versprechen: „Keine neuen Steuern. Punkt.“ Und Dukakis? „Neue Steuern nur als letzter Ausweg.“ Er hat aus den bitteren Erfahrungen Walter Mondales gelernt, der vor vier Jahren so ehrlich war, den Wählern schon vor dem November Steuererhöhungen anzukündigen und damit panikartige Reaktionen provozierte. Bush will die Staatsausgaben per „flexiblem Einfrieren“ begrenzen, während Dukakis vor allem säumige Steuerzahler zur Kasse bitten will, die bisher durch die Netze der Behörden geschlüpft sind.

Nicht nur das Defizit trübt die Reagan-Bilanz, auch ein nüchternerer Blick auf den Arbeitsmarkt zeigt ein anderes Bild als das von George Bush gezeichnete. Die stolz vorgetragene Zahl von 16 Millionen neugeschaffenen Arbeitsplätzen verhüllt eine fundamentale Umstrukturierung des amerikanischen Jobmarkts. Die Zahl der Arbeitsplätze im Produktionssektor hat unter Reagan von 30 Prozent auf 19 Prozent abgenommen, besonders die gute Löhne zahlende Automobil- und Stahlindustrie ist unter dem Druck der ausländischen Konkurrenz dezimiert worden. Die Durchschnittsstundenlöhne für Männer zwischen 25 und 34 Jahren sind in diesen acht Jahren von 9,70 Dollar auf 8,85 Dollar gesunken.

Die Statistiken belegen gleichfalls den Vorwurf, daß unter Reagan die Reichen wohlhabender und die Benachteiligten ärmer geworden sind. Das reichste Zehntel der amerikanischen Bevölkerung verfügt nun über 35,7 Prozent des nationalen Wohlstands, 1977 waren es nur 31,9 Prozent. Das ärmste Zehntel sah dagegen sein Stück vom Kuchen von 1,1 Prozent auf 0,9 Prozent schrumpfen.

13 Prozent unter der

Armutsgrenze

Gleichzeitig ist das soziale Netz immer durchlässiger geworden: In seiner ersten Amtszeit kürzte Reagan die Ausgaben für Soziales und Infrastrukturmaßnahmen um 130 Milliarden Dollar, der Pentagon-Haushalt hingegen wuchs zwischen 1980 und 1987 von 134 Milliarden auf 282 Milliarden Dollar an. Eine der Konsequenzen ist, daß am Ende der Reagan -Jahre 13,5 Prozent der Familien unter der offiziellen Armutsgrenze liegen - mehr als jemals unter Jimmy Carter. 37 Millionen AmerikanerInnen verfügen gegenwärtig über keinerlei Krankenversicherung. Kein Wunder also, daß George Bush in New Orleans stolz auf Inflations- und Arbeitslosenrate verwies, die Armutsrate aber genauso überging wie das Haushaltsdefizit. Auch Dukakis hat sich bisher eher auf Jesse Jackson verlassen, wenn es um das untere Drittel in der amerikanischen Gesellschaft ging, und seine Bemühungen auf die Mittelklasse konzentriert, die die Wahl in stärkerem Maße entscheiden wird. Die Strategen der Dukakis-Kampagne setzen dem republikanischen Bild vom allseits wachsenden Wohlstand eines entgegen, in dem die Prosperität ungleich verteilt und an breiten Bevölkerungsschichten vorbeigegangen ist. Das Problem für Dukakis: Gerade in den von ihm umworbenen Schichten gibt es auch viele, die von den Reagan-Jahren profitiert haben.

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