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Vademecum - Geh immer mit mir

■ Spannender Vortrag zur Geschichte der Lesben-Literatur / Nazis setzten der glänzenden homosexuellen Subkultur ein Ende / Auftakt im „Bremer Lesbenliteraturmonat“

Unvorstellbar für uns Jüngere, die wir mit Verena Stefan's „Häutungen“ in der Tasche zur Schule oder in die Uni gingen, was es bedeutet hat, in den 50er oder 60er Jahren Lesbe zu sein und kein einziges literarisches Vorbild (zumindest auf dem deutschsprachigen Buchmarkt) zu finden, nicht eine Frauen-Liebesgeschichte, die das Gefühl hätte vermitteln können, nicht „allein“ zu sein.

In ihrem spannenden und informativen Vortrag über die deutschsprachige Lesbenliteratur der letzten zehn Jahre zeigten Gudrun Hölscher und Kordula Wyrwich am letzten Dienstag im Frauenkulturhaus sehr anschaulich, wie jung diese Literatur ist und wie wenig Raum sie erst einnimmt.

Nachdem die glänzende homosexuelle Subkultur der 20er Jahre, v.a. in Berlin, durch den Nationalsozialismus zerstört worden war, brach eine Entwicklung lesbisch/schwulen Selbstbewußtseins ab, an die bis heute nicht wirklich wieder angeknüpft werden konnte.

In den folgenden dreißig Jahren gab es keine deutschsprachige

Publikation, in der lesbisches Leben offen geschildert wurde.

Erst durch den Einfluß der US-amerikanischen Lesben-und Frauenbewegung entsteht auch in der BRD eine neue Lesbenliteratur - 15 Veröffentlichungen in den 70er Jahren, 45 in den 80ern. Viele der Romane und Erzählungen thematisieren noch vor allem die Schmerzen und Schwierigkeiten lesbischen Lebens (z.B. Judith Offenbach: „Sonja„; Marlene Stenten: „Albina“) und die Auseinandersetzungen mit Erziehung und Umwelt (z.B. S. Ammer: „Ein ernstes Kind“). Aber mit Verena Stefan „Häutungen“ (erschienen 1975 und ein großer Erfolg) kommt auch eine Literatur auf, die voll Euphorie und Selbstbewußtsein die Liebe unter Frauen fixiert und zum ersten Mal versucht, für das Unaussprechliche, Verschwiegene, für das Begehren unter Frauen eine eigene Sprache zu finden. DIese Erfahrungsliteratur - eine holländische Literaturwissenschaftlerin nennt sie „Vademecum“ (geh mit mir) - hat viele Frauen begleitet und unterstützt bei ihrer Suche nach neuen Ufern.

Und was kommt danach? Mehr Witz und Selbst-Ironie tauchen auf, mehr Auseinandersetzungen mit allgemeinpolitischen Verhältnissen (T. Bührmann: „Flüge über Moabiter Mauern“). Was immer noch fehlt, ist eine breitgefächerte Lesbenliteratur - Vorbild USA - die sich die unterschiedlichsten Genres erobert.

Die Chancen und Mängel der deutschsprachigen Lesbenliteratur können in den kommenden Wochen ausführlich diskutiert werden, bei den weiteren Veranstaltungen des ersten deutschen Lesbenliteraturmonats, organisiert und angeboten vom Bremer Frauenbuchladen „Hagazussa“ - zugleich literarisches Forum und Protest gegen antihomosexuelle Politik, wie sie sich derzeit im Thatcher-England breitmacht.

Andrea Schweers

Nächste Termine: Marlene Stenten liest aus „Ach Annnana“, heute, 20 Uhr, KuBo.

26.10. Madeleine Marti, „Von Robinson zur Angehörigen der lesbischen Nation“. Vortrag über Christa Reinig, Frauenkulturhaus, 20 Uhr

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