Anarchie im ostfriesischen Äther

■ Ostfriesland mit mehreren hundert Wohnzimmersendern ist das Eldorado der Schwarzfunker in der Bundesrepublik / Trotz ständiger Fahndung und Beschlagnahme der Sender durch die Bundespost lassen sich die Piratenfunker mit ihrer bodenständigen Anarchie nicht von ihrem Hobby abbringen: Gefunkt wird, was das Zeug hält

Rhauderfehn (taz) - „Ja, das ist wie Opium, das ist, wie wenn man an der Nadel hängt.“ Hermann Lind, 64 Jahre alt und würdiger Senior aus Osfriesland, ist nicht etwa rauschgiftsüchtig. Hermann Lind ist begeisterter Hörer einer von 200 Piratensendern, die es in der nordwestlichen Ecke der Bundesrepublik bereits gibt.

Ihre Namen verraten gleichermaßen Einfallsreichtum und Phantasie: Radio Veronika oder Radio Toronto, um nur einige zu nennen. Ihr Anhängerschaft geht in die Zehntausende. Denn: Schwarzsender oder Piratensender, wie die heimlichen Akteure mit Funkleidenschaft auch genannt werden, gehören in Ostfriesland zum täglichen Leben wie die morgendliche Tasse Tee mit Kandiszucker und Sahne. Und von Monat zu Monat wachsen Anhängerschaft und Sendestationen - trotz scharfer Kontrollen der Deutschen Bundespost, die dem bunten Treiben im Äther nicht viel bürokratische Freude abgewinnen mag. Ostfriesland, so scheint's, ist das Eldorado der Schwarzfunker in der Bundesrepublik - beispielhaft für andere Regionen im Lande.

Die Anfänge gehen zurück auf die Funkleidenschaft der benachbarten Niederländer, die es in den sechziger Jahren sogar fertigbrachten, frequenzstarke Privatsender vor der Küste im Meer außerhalb der Drei-Meilen-Zone zu verankern. Doch inzwischen sind die Zeiten im Nachbarland schlechter geworden - die Liberalität früherer Zeiten ist dahin.

In Niedersachsen erhielten die ostfriesischen Funkpiraten Auftrieb durch die Diskussion um den Albrechtschen Privatfunk, an dem sich freilich nur größere oder finanziell potente Verlage beteiligen können. Denn einen Bürgerfunk sieht das Landesrundfunkgesetz (vorerst) nicht vor. Grüne und Sozialdemokraten haben schon zu erkennen gegeben, daß sie dies nach einer Ablösung der CDU-Landesregierung schnell ändern wollen.

Die Menschen in Ostfriesland kümmert der Hick-Hack um Funklizenzen nicht besonders. Sie haben sich inzwischen ihre eigenen Frequenzen zur Verfügung gestellt, die Sender sind so gebaut, daß sie maximal 20 bis 30 Kilometer weit reichen. Mehr ist auch nicht nötig. Die Piraten sprechen die Frequenzen oder die Sendezeiten untereinander ab - Probleme gibt es nicht.

Besucher Ostfrieslands glauben in der Tat, italienische Verhältnisse vorzufinden: Eine schier unübersehbare Sendervielfalt versorgt hier wie dort die Einheimischen Tag für Tag und Nacht für Nacht mit Musik, Gratulationen und Hörerwünschen. Nachbarn tauschen in Ostfriesland Wünsche zur silbernen Hochzeit aus, Jan de Vries wird heute 50 Jahre alt und etliche tausend Stammhörer im Umkreis von 20 Kilometern erfahren die Neuigkeit, daß bei Hein am Langen Weg was Kleines angekommen ist. Gelegentlich gibt's auch Politisches, grad wie es gebraucht wird.

Versuche der Funkpiraten, von der niedersächsischen Landesregierung offizielle Frequenzen zugeteilt zu bekommen, schlugen bisher fehl. Dennoch schießen überall zwischen Oldenburg und Aurich „Interessengemeinschaften des privaten Rundfunks“ wie Pilze aus der Erde. Die Piraten beginnen sich zu organisieren, eine Lobby zu bilden - mit tatkräftiger Unterstützung ihrer Hörer, die - ohne viel darüber zu reden

-eine mächtige Bürgerinitiative verkörpern.

Jüngstes Beispiel: In Delmenhorst hat sich eine Initiative für einen Privatsender gebildet, der im Herbst dieses Jahres seinen Betrieb aufnehmen will.

Werbung gibt es in den mehrstündigen Sendungen nicht, obwohl der Markt dafür sicherlich vorhanden wäre. Doch die Funkpiraten wollen aus ihrem Hobby kein Geschäft machen. Was sie nicht verstehen können, ist die Jagd der Bundespost, die ihre Beamten auf jede nur beweisbare Spur ansetzen.

Der Status der Legalität, also das Funken ohne ständige Furcht vor Entdeckung - die ostfriesischen Funkpiraten wünschen sich nichts sehnlicher.

Ihr Traum von einem legalen bürgernahen Hörfunk, der nicht über den Wasserrohrbruch in der 200 Kilometer entfernten Hamburger Mönckebergstraße, sondern über die Probleme vor der eignene Haustüre berichtet, wird wohl noch längere Zeit auf sich warten lassen. Obwohl sich, so eines der Argumente, kein Mensch darüber aufregt, wenn ein Sportverein von der Meinungsfreiheit des Grundgesetzes Gebrauch macht und eine Vereinszeitschrift herausbringt.

Der sprichwörtliche Widerstandsgeist der Ostfriesen läßt erwarten, daß sie so bald nicht aufgeben. Daß selbst die sonst so korrekten Ordnungshüter in Ostfriesland der Faszination der Piratensender erliegen, und einige von ihnen gelegentlich sogar selbst am Mischpult stehen, ist im Nordwesten der Republik längst kein Geheimnis mehr und gehört wohl zu den Besonderheiten der ostfriesischen Region.

Während in den letzten zwei Jahren von der Bundespost beinahe wöchentlich ein Schwarzsender „ausgehoben“ wurde, ist es seit einigen Wochen still geworden um Fahndungserfolge. Der Pressesprecher der Oberpostdirektion Bremen, Karl-Heinz Antelmann, über die Aktivitäten der Funkpiraten, die in der Region zwischen Oldenburg und Leer eine eigenartige Atmosphäre von bodenständiger Anarchie verbreiten: „Die halten sich und warnen sich gegenseitig. Das funktioniert auch sehr gut. Die Ostfriesen lieben halt ihre Wohnzimmersender.“

Die Fahndungserfolge oder -bemühungen sind - so oder so deutlich zurückgegangen. Die Statistik der Funkkontrollstelle Itzehoe in Schleswig-Holstein, die auch für Ostfriesland zuständig ist (Antelmann: „Die Leute kennt niemand in Ostfriesland“), verzeichnete noch vor zwei Jahren 70Strafanträge gegen Funkpiraten, ein Jahr später waren es 52 und in diesem Jahr nur noch 20. Antelmann: „Gefunkt wird immer noch, was das Zeug hält, aber unsere Beamten sind nicht mehr so häufig im Einsatz.“

An den Geldstrafen - durchschnittlich verhängten die örtlichen Amtsgerichte zwischen 500 und 2.000 Mark, die Anlagen werden beschlagnahmt - liegt es nicht, daß weniger Ätherpiraten geschnappt werden. Denn davon ließen sich die Ostfriesen noch nie schrecken, im Gegenteil: Von der Bundespost ausgehoben zu werden, ist nach wie vor ein Kavaliersdelikt, eine Auszeichnung. Und noch immer gilt: Muß einer der Sender wegen der Aktivitäten der Staatsdiener mit dem gelben Horn seinen Betrieb einstellen, dann beginnt schon zwei oder drei Tage später ein neuer Sender zu funken

-„mit herzlichen Grüßen an die Bundespost“.

Widerstand auf ostfriesisch - ganz ohne Schnörkel.

Peter Vogel