Psychologische Zeitschriften: Irrenoffensive/Psychologie & Gesellschaftkritik/Integrative Therapie/Recht & Psychiatrie/Sozialpsychiatrische Informationen/Psyche

„Wenn wir im Leben vom Tod umgeben sind, so auch in der Gesundheit des Verstandes vom Wahnsinn“, so der kritische Sprachphilosoph Ludwig Wittgenstein 1944. Wem sich der Bedeutungsgehalt dieser Bemerkung erschließt, den mag sehr wohl auch das Sonderheft I der 'Irrenoffensive‘ interessieren. Ein achtköpfiges Übersetzerteam (Ralf Bey er, Peter Lehmann, Hannelore Pietsch, Gabi S., Tina Stöckle, Martin Wiedmann und Hartmut Zülch) diskutierte ausgiebig über den Titel, schließlich einigte man/frau sich auf 'Das Psychiatrische Testament‘. Der Originalaufsatz von Thomas S. Szasz erschien 1982 als The Psychiatric Will im 'American Psychologist‘. Szasz‘ Vorschlag: gestaltet nach dem Modell des letzten Willens zu Lebzeiten, sollen Personen im Zustand der Rationalität und Normalität planen können, welche Behandlung sie für die Zukunft wünschen, sollten andere sie als verrückt oder krank betrachten.

In Zusammenarbeit mit der Irrenoffensive hat der in Psychiatriedingen erfahrene Berliner Rechtsanwalt Hubertus Rolshoven im Anhang den Text für ein Psychiatrisches Testament und ferner einen Ablaufplan quasi als Gebrauchsanweisung entwickelt. Leser- und GebraucherInnen sind aufgefordert, Erfahrungen zu sammeln und diese der Irrenoffensive mitzuteilen. Mensch ist gespannt auf die Auswertung dieser phänomenologischen Untersuchung.

Wenn die HerausgeberInnen der 'Psychologie & Gesellschaftskritik‘ mit Heft 3/1988 den thematischen Schwerpunkt „Geschichtliches“ setzen, so haben sie „Untersuchungen sozialer, politischer und kultureller Verhältnisse im Sinn, die Wissenschaft als gesellschaftliche Erscheinung begreifen wollen, um aus den Strukturen der Vergangenheit unsere heutige Gesellschaft besser verstehen zu können“.

Eine solche Perspektive löst Günter Rexilius, einer der frühen Mitherausgeber, jetzt als Autor ein. In seinem Beitrag (Politisch-psychologische Anmerkungen zum sogenannten Historikerstreit) wird sichtbar, daß die Beteiligten an der seit nunmehr zwei Jahren währenden Debatte vernachlässigen, auf Anzeichen faschistoider Kontinuität hinzuweisen (Ausnahme: H.-U.Wehler im taz -Gespräch mit Armin Trus am 30.7./2.8.88 Kontinuität und Diskontinuität). Dies - so meint Rexilius - sei häufiges Merkmal auch vorangegangener „Vergangenheitsbewältigung“ um Psychologen, Mediziner, Politiker, Juristen und Journalisten. Hier wie dort stand und steht die Kritik an Personen im Vordergrund, wenn die Frage Kontroversen auslöst, ob in der Bundesrepublik eine Bewältigung des Faschismus stattgefunden habe. Eine personifizierte oder auch professionalisierte Kontinuitätsvermutung verstelle aber den Blick auf die ideologische. Eine derartige Aussparung wiederum leiste einer „absurden Bolschewisierungsthese“ oder einer „ratlos-moralisierenden Distanzierungsmasche“ Vorschub.

Angelika Ebrecht hat sich die Rehabilitation eines psychologischen Konzepts vorgenommen, wenn sie sich der vitalistischen Ganzheitspsychologie eines Hans Driesch widmet. Denn der Theorie des Ganzheitspsychologen Felix Krüger beispielsweise wurde vorgeworfen (Geuter 1980), sie habe positive Möglichkeiten des Ganzheits- und Strukturbegriffs dem Irrationalismus geopfert. Drieschs Gedanken jedoch enthalten entscheidende Unterschiede zu jenen Krügers. Ebenso lehnte er den Holismus ab, weil er eine Vermittlung zwischen Mechanismus und Vitalismus für unvereinbar hielt. Wichtig im Konzept Drieschs - so arbeitet Ebrecht heraus - ist auch das rationale negative Urteil, die Fähigkeit, „Nein“ zu sagen.

Weitere thematische Beiträge der Autoren, die sich der eingangs genannten Wissenschaftsperspektive verpflichtet fühlen, stammen von Norbert W.H.Geib (Seele, nur ein antiquarisches Wort? Zur Geschichte psychologischen Denkens), von Paul Brieler („Sorgenkinder“ in der Wehrmachtspsychologie) und Thomas Kleinspehn, der in seinem Beitrag (Der Ort der psychoanalytischen Theorie in der historischen Forschung - Versuch einer Zwischenbilanz der Psychohistorie) die These vertritt, daß „eine psychohistorische Forschung erst dann ein kritisches Potential entwickelt, wenn es gelingt, historische Sozialwissenschaften mit den kulturkritischen Perspektiven der Psychoanalyse vor dem Hintergrund einer Gesellschaftstheorie zu verbinden“.

Heft 1/1988 der 'Integrativen Therapie‘ schließt mit dem Beitrag von Gerald H.E.Russelman an das letztjährige Heft 'Psychotherapiekritik‘ an. Der Autor legt eine kritische Abhandlung über den Energiebegriff in der Bioenergetik vor und bewertet zugleich die Theorie, auf der diese Therapieform basiert. Ein Exkurs auf die Theorien (und Experimente) Reichs, die später über Lowen Eingang in die Entwicklung der bioenergetischen Methode fanden, macht deutlich, daß diese in einem bestimmten wissenschaftlichen Klima entstanden, zu dem unter anderem Publikationen von Berger, Bergson und - Rückblick auf den zuvor besprochenen Artikel von Ebrecht - auch von Hans Driesch gehörten. Auch wenn Russelman nicht a priori der Bioenergetik wertvolle Elemente absprechen will, deren theoretische Basis erscheint ihm gegenwärtig noch arg schwach auf den Füßen.

Jürgen Abresch denkt in Stimmstörung als Krisenvertonung über den „Kloß im Hals“ und andere Phänomene nach. Er stellt einen Zusammenhang her zwischen biographischen Einflüssen auf die Gewordenheit der Stimme und der Entstehung funktioneller Stimmstörungen, denn, und dies wird in seinem Beitrag sehr deutlich: „Die Stimme ist eine lauthafte Biographie.“

Hildegund Heinl läßt Paul Groddeck sozusagen leibhaftig werden, wenn sie die Verbindung zwischen diesem unkonventionellen Psychoanalytiker und der Integrativen Leibtheorie herausarbeitet.

Cornelia von Hest schließlich, deren Arbeitsgrundlage die von Maria Hippius und Graf Dürckheim entwickelte Initiatische Therapie ist, zeigt, was es mit der Methode des „Geführten Zeichnens“ auf sich hat. Beim Betrachten der Abbildungen, die ihren Text veranschaulichen, wird ein Prozeß der „inneren Führung“ sichtbar, denn darum geht es im „Geführten Zeichnen“. Es ist eine Möglichkeit zu aktiver Meditation.

Zum wiederholten Male widmet sich die 'Recht & Psychiatrie‘ der Reform des Vormundschafts- und Pflegschaftsrechts. Ulrich Schumacher und Andreas Jürgens, Richter an Amtsgerichten in Dortmund und Kassel, diskutieren in Heft 2/1988 den im November 1987 von einer Arbeitsgruppe aus dem Bundesjustizministerium vorgelegten Teilentwurf eines Gesetzes über die Betreuung Volljähriger, der bisherige Vorschriften über Entmündigungen und Pflegschaft über Volljährige ablösen soll. Die Bewertung der beiden Autoren: „durchaus begrüßenswert“ und insgesamt eine Verbesserung der Situation der betroffenen Menschen, jedenfalls dann, wenn notwendige Vorbedingungen erfüllt sind, zum Beispiel wäre die randständige Position der Vormundschaftsgerichte innerhalb der Justiz aufzuwerten, müßten sich in ausreichendem Maße Menschen für die Aufgabe eines „Betreuers“ zur Verfügung stellen.

Nachdenken über Ethik in Psychiatrie und Medizin heißt besonders in diesem Lande auch, genau zu schauen, was „Menschen getan, einander angetan haben“ in der Zeit des Nationalsozialismus. In den 'Sozialpsychiatrischen Informationen‘ geschieht dies vor allem in den Beiträgen von Dirk Blasius („Der Historikerstreit“ und die historische Erforschung des „Euthanasie„-Geschehens) und Ralf Seidel (Ethische Orientierungsversuche der Medizin nach den Nürnberger Ärzteprozessen).

Diesseitiger trotz historischer Perspektive sind die Aufsätze von Josef Schädle (Ethische Voraussetzungen der Gemeindepsychiatrie). Wenn H.J.Rosina über Psychische Manipulationspraktiken in destruktiven Kulturen schreibt, so versteht er unter letzteren „Jugendreligionen“. Wenig positiv ist die Sicht von Betroffenen und deren Angehörigen über die Handlungsmöglichkeiten des herkömmlichen Psychiatrieapparates, wie beispielsweise der abgedruckte Brief eines Vaters deutlich macht. Da ist davon die Rede, daß „wir auf psychiatrischem Gebiet noch tiefstes Entwicklungsland sind. Unseren heutigen Nervenkliniken fehlen nicht weniger als alle Voraussetzungen, eine eingerastete Sektengläubigkeit junger Menschen zu behandeln...“

Ob nun zwei über das (Kruckenbergsche) Kuckucksnest flogen, wie der Leiter des Großkrankenhauses Bremen-Ost meint, oder ob als Metapher für einen mißglückten Subversionsversuch Der Bumerang - oder: Supervision auf einer verschlossenen psychiatrischen Langzeitstation treffend ist, wie sie Heinz Alex Schaub und Hermann Josef Schwall, den be -/verhinderten Supervisoren einfiel, bleibt, nach der ersten Freude darüber, daß ein Stück psychiatrischen Irrwegs schließlich doch noch publiziert wurde, leider offen.

Wie Innere und äußere Realität in Psychoanalysen umzusetzen sind, darüber reflektiert Rolf Vogt in der Augustnummer von 'Psyche‘ und vertritt hier eine andere Ansicht als beispielsweise Paul Parin. Grundsätzlich solle die gesellschaftskritische Position in die voranalytische Reflexion des Therapeuten eingehen, in der Dyade Analytiker -Patient mache eine vertiefte Auseinandersetzung mit der Realität erst dann Sinn bzw. werde „für eine Analyse nützlich und notwendig, wenn darin in hervorstechender Weise Themen Bedeutung erhalten, die durch kollektive Abwehr- und Entwicklungsprozesse gesellschaftlich besonders brisant sind“. Die beispielhaft angeführten klinischen Vignetten berühren Nationalsozialismus und Frauenfrage (wobei der männliche Therapeut Vogt ehrlich genug ist, seine versteckten Vorurteile Frauen gegenüber offenzulegen), aber auch hochgradig mit Realangst besetzte Inhalte wie Tschernobyl und Atomkriegsgefahr sind angesprochen. Hans Keilson alias Alexander Keiland schreibt im Septemberheft über Linker Antisemitismus? Ein bißchen schlurig wurde hier wohl korrekturgelesen - was bei der 'Psyche‘ selten vorkommt - Linker ist offenbar vom Autor in Gänsefüßchen gemeint. Über diese Mehrdeutigkeit läßt sich sinnieren. Daß freilich auch politische „Linke“ von Nationalsozialismus, Vorurteilen und autoritären Charakterstrukturen nicht frei sind, wen wundert's?

Als Ursprung des Antisemitismus „von links“ macht Keilson die Identifizierung von „jüdisch“ und „kapitalistisch“ aus, und da gab es bereits Wurzeln bei den ersten prämarxistischen Sozialisten, wobei der „pseudowissenschaftliche Begriff Antisemitismus“ erst 1879 von Wilhelm Marr geprägt wurde. Karl Marx, August Bebel assoziierten Jude Schacher Geld (Bebel 1893).

Es gibt vielfältige Erklärungen für Antisemitismus. Fehlschlagen muß daher, ihn als ein isoliertes, spezifisches Phänomen zu betrachten. Hingegen - so Keilson - sei die These Horkheimers und Adornos noch heute richtig, daß exzessiver und militanter Nationalismus ein Aspekt sei; der Projektionsmechanismus bzw. die Sündenbockthese erklärt ebenfalls einiges. Eine weniger beachtete Form der Diskriminierung ist die idealistisch überhöhte „Überbewertung“.

Ende des letzten Jahrhunderts war es gängige Ansicht auf sozialistischen Kongressen, daß die Überwindung des Kapitalismus auch die Frage des Antisemitismus lösen würde.

Neue Aufschlüsse über linke Ideologie und Persönlichkeitsstruktur brachte die 1929 begonnene, vollständig erst 1980 veröffentlichte Studie von Erich Fromm. Deren verkürzte Wiedergabe hier nochmals zu reduzieren, gefällt mir nicht. Drum: lesen, auch um sich der Frage weiter anzunähern, ob es einen „linken“ Antisemitismus - in uns - gibt.

Die Irrenoffensive, Pallasstraße 12, 1000 Berlin 30, Sonderheft 1, 72 Seiten, 5 Mark

Psychologie und Gesellschaftskritik, Bürgerbuschweg 47, 2900 Oldenburg, Einzelheft 11 Mark, Doppelnummer 18 Mark

Integrative Therapie, Junfermann-Verlag, Im Dörener Feld 11, 4790 Paderborn, Einzelheft 12.50 Mark, Doppelnummer 25 Mark

Recht & Psychiatrie, Psychiatrie-Verlag, Postfach 2145, 5300 Bonn 1, Einzelheft 8 Mark

Sozialpsychiatrische Informationen, Psychiatrie-Verlag, Postfach 2145, 5300 Bonn 1, Einzelheft 10 Mark

Psyche, Cotta'sche Buchhandlung Nachf. GmbH, Postfach 809, 7000 Stuttgart 1, Einzelheft 12 Mark