: „Rocard versucht sich der sozialen Wirklichkeit anzunähern“
Der französische Soziologe Alain Touraine über die Streiks in Frankreich und ihre unterschiedliche Qualität. „Die Auseinandersetzung muß konkret sein.“ ■ I N T E R V I E W
Alain Touraine gilt als bedeutenster französischer Soziologe der Gegenwart. Als einer der ersten in Frankreich stellte er die Bedeutung der sogenannten neuen sozialen Bewegungen der siebziger Jahre heraus. Seither sah man in ihm den theoretischen Vordenker der von Michel Rocard innerhalb der sozialistischen Partei verfochtenen Richtung. Im Gespräch mit der taz äußert sich Touraine erstmals zu den Regierungerfahrungen seines Polit-Zöglings.
taz: Unerwartet erfolgreich verliefen diese Woche in Frankreich Streik-und Protestaktionen im öffentlichen Dienst. Hat die plötzlich wiederauferstandene gewerkschaftliche Einheitsfront eine neue Zukunft?
Alain Touraine: Sechs Millionen Franzosen arbeiten im öffentlichen Dienst. Wenn diese sechs Millionen heute im Block für eine zusätzliche zweiprozentige Lohnerhöhung für alle kämpfen, dann kämpfen sie eigentlich nur für 0,3%. Ich meine dies, weil sie sich selbst ein großes Hindernis stellen: Solch übergreifende Lohnforderungen wirken doch sofort inflationär. Zudem ist unwahrscheinlich, daß sechs Millionen Menschen objektiv alle die gleiche Lohnerhöhung benötigen. So bringt sich der öffentliche Dienst mit einem Generalstreik in eine ungünstige Lage. Forderungen, wie sie die Gewerkschaften z.B. nach der Gleichbehandlung der Beschäftigten in einzelnen Verwaltungszweigen erheben, sind sehr abstrakt. Sie nehmen die Leute nicht in ihrer Arbeitswirklichkeit wahr.
Zielte dann der Streik der Krankenschwestern auf eine solche Veränderung des Arbeitsalltags?
Ich stehe hundertprozentig hinter den Krankenschwestern. Die Krankenschwestern gehören einer Berufsgruppe an, deren Niveau sich sehr gehoben hat, ohne daß die Löhne dem gefolgt wären. Darüberhinaus finden ihre Forderungen Unterstützung in der Öffentlichkeit, weil diese sich auf, sagen wir, postindustriellem Gebiet bewegen. Deshalb nenne ich den Krankenschwesternstreik eine soziale Bewegung. Die Krankenschwestern verteidigen nicht nur ihre Interessen, sondern vertreten auch die Kranken gegenüber der medizinischen Technokratie. Gerade aus diesem Grund war es nötig, die globalen Lohnverhandlungen im öffentlichen Dienst zu durchbrechen.
Geben Sie damit Michel Rocard recht, der propagiert, eben nicht global, sondern „von Fall zu Fall“ getrennt die Lohnverhandlungen führen zu wollen?
Ich habe mit größtem Vergnügen festgestellt, daß Rocard bisher an diesem Vorsatz festhält und sich deshalb ordentlich mit den Sozialisten anschnauzt. „Von Fall zu Fall“ deshalb, weil es nur so möglich ist, Verhandlungen auf eine reale soziale Situation zurückzuführen, in der es auch reale soziale Akteure gibt. Sind die Verhandlungssituationen abstrakt, verschleiern sie nur die Macht von Partei- und Gewerkschaftsführern.
Kann sich denn eine spontan entstandene Basis-Koordination, wie sie die Krankenschwestern heute haben, innerhalb weniger Tage zum „realen sozialen Akteur“ hochschwingen?
Genau das war die Koordination. Was wollen Sie denn mehr? 100.000 Krankenschwestern auf der Straße und hinter ihnen die gesamte Öffentlichkeit.
So schnell wollten dies aber auch Michel Rocard und sein Gesundheitsminister Evin nicht begreifen. Warum warteten sie drei Wochen, bis sie die Koordination an den Verhandlungstisch luden?
Ich werde ganz philosophisch antworten: Evin ist ein Idiot. Rocards Minister handelte auf eine Art und Weise, die eigentlich allen Vorsätzen Rocards widerspricht.
Steht Rocard denn noch zu seinen Vorsätzen?
Rocards Ansatz lautet: Sich der sozialen Wirklichkeit anzunähern. Wenn ich ein Anhänger Rocards bin, dann deshalb.
Sind Sie es wirklich immer noch?
Ich bin es mehr als noch vor drei Monaten, weil ich sehe, wie schnell in der Partei der alte Sozialismus gegen Rocard wiederaufersteht. Herr Evin hat gesagt: Ich verhandele nur mit den Gewerkschaften. Das sind die guten Gefühle der guten alten Linken, der guten alten Scheiß-Linken.
Welche Rolle können die Basis-Koordinationen spielen, die sich in Frankreich derzeit solcher Beliebtheit erfreuen?
Eine solche Koordination, eine solche Basisbewegung kann nur reifen und sich entwickeln, wenn es eine Verhandlungsmöglichkeit gibt. Die aber gab es nicht. Deshalb kam es in der Krankenschwesterbewegung zwangsläufig zur Radikalisierung, Gehaltsforderungen wurden übertrieben, innere Fronten zwischen Trotzkisten und Basisschwestern entstanden. Letzendlich aber hat die Regierung die Chance vertan.
Trotzdem entdeckt Frankreich einen sozialen Elan, den man in den letzten Jahren vermissen konnte. Warum war es so lange still?
Die bisherige Stagnation der französischen Gesellschaft erklärt sich im Aufeinandertreffen zweier Phänomene. Man muß doch sehen, daß Frankreich ähnlich wie die USA im letzten Jahrzehnt wie eine reine Konsumgesellschaft funktioniert hat. Hinzu kommt ein intellektuelles Phänomen: Frankreich ist so lange von der kommunistischen Denkweise dominiert gewesen, daß heute der Antikommunismus dominiert. Die Franzosen leiden unter einem antimarxistischen Eszeß. Hinter dem Marxismus aber steht das Soziale. Sozial, d.h. sozialistisch, d.h. gefährlich, altmodisch, und weiter wird nicht gedacht. Frankreich hat in den letzten Jahren Angst gehabt, die eigene Gesellschaft zu durchdenken.
Und nun soll Rocard, der Anti-Sozialist und Tabubrecher, die Franzosen wieder das Investieren und Denken lehren?
Ich gebe keine Prognose. Unser derzeitiges Konsummodell kann eine Weile gut gehen, aber keine fünfzig Jahre. Wir müssen zurück zu großen Investitionen finden, für die Schulen, die Forschung, die Gesundheit. Ich bin überzeugt, daß dort, wo investiert wird, es auch soziale Bewegungen gibt, die über die Ausrichtung der Investitionen mitentscheiden wollen.
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