: Lo-Tek is street-smart
■ William Gibsons Cyberpunk-Trilogie „Neuromancer“, „Count Zero“ und „Mona Lisa Overdrive“, von der Tim Leary sagt: „Pynchon ist die Bibel des 20.Jahrhunderts, Gibsons Romane sind die des 21.Jahrhunderts“
Baudrillard schreibt über die Wüsten der Zerstreuung und der Simulation, Virilio berichtet von smart buildings, einer Architektur, die durch die Vernetzung ihrer Teile mit elektonischen Medien bestimmt wird. Gibson rast durch den Cyberspace, zeigt Bilder eines unbestimmten Verlangens nach Verschmelzung mit den tronics.
Es sind immer Helden von der Straße, Speedsüchtige, Prostituierte, Organ-Dealer, die durch Bewegungen in der multinational vernetzten Datenmatrix veranlaßt werden, es mit den großen corporations und dem big money des organisierten Verbrechens aufnehmen. B-Film-Helden der schwarzen Serie Hollywoods: Case, Ex-Hacker, der seinen Auftraggeber betrog, mit Nervengas bestraft wurde und in Tokios Ausländer- und Vergnügungsviertel Chiba City rumhängt, kleine Deals macht, in einem Kunststoffsarg mit Comp und Temperschaummatratze wohnt, und der schließlich zusammen mit einer KI (künstlichen Intelligenz) und einem chinesischen ICE-breaker - einem Code -Dechiffrierprogramm - das Ende für eine dekadente, geklonte Geldaristokraten-Familie bringt. Molly, eine Ronin, (ein wandernder Straßensamurai) mit über den Augen implantierten, verspiegelten Linsen (inklusive Nachtsichtverstärker und LED -Zeitangabe) und zehn rasiermesserscharfen Klingen unter den Fingernägeln, dringt in den orbitalen Familiensitz ein, während Case, an Bord des zugekifften Rasta-Raumschiffs Marcus Garvey mit seinem Ono-Sendai-Deck verkoppelt, den Eisbrecher ins Ziel lenkt.
Das ist die Story. Neuromancer. Angesiedelt in einer Zukunft, in der Tokio zu 37 Prozent auf Müll (Gomi) erbaut ist, Bargeld - Neue Yen - als Zahlungsmittel nahezu illegal ist, in der es PSI-Mutanten gibt, einsame und harte Söldner, Sim-Stim-Apparaturen, mit denen sämtliche Sinnesdaten einer Person aufgezeichnet und dann von anderen wieder abgerufen werden können. Sim-Stim in Real-Zeit: Molly trägt den Sender, und Case fühlt das Leder der Jacke auf ihren Brüsten. Es gibt international kooperierende Fake-Terroristen, Jugendbanden, die schon mal bösartige cut-ups über das Netz ausstrahlen, um so gedeckt eine flat-line aus ihrem gesicherten Versteck zu rauben. Als einer im Cyberspace einen run auf Daten machte, erwischte ihn deren ICE voll - Hirntod; doch da man sein Wissen nicht missen wollte, konstruierte Big Money eine RAM-Box, in der sich Dixies, gespeicherte Sinnesdaten und Erfahrungen usw., zu einem ewigen Gedächtnis organisierten. Die Dixie-flat-line, da sitzt er drin, braucht man nur ans Netz zu hängen, und schon ist er da - im Cyberspace.
Cyberspace - das ist die gesamte weltweite Menge an Daten, wie eine leuchtende Neonstadt aufgebaut. Je nach Datenart und -menge, nach Größe, Form und Farbe verschieden; multinationale Organisationen haben Patente auf ihre Erkennungszeichen.
Cyberspace, du legst die E-troden an den Kopf, schaltest das Deck ein, und die Sinne werden von weißem Rauschen erschlagen. Du gibst über die Tastatur Koordinaten ein und reitest hinein in die schillernde Datenwelt.
Begonnen hat das alles damals, wie üblich beim Militär, als sie die Kampfflieger mit ihren Computer verkoppelten; primitive, grobschlächtige Helme, um simulierte sensorische Impulse zu vermitteln, verkleinerte Bildschirme, auf denen Freund- und Feinddaten hübsch stilisiert wurden, damit sie schneller zu identifizieren waren. Iconics.
Doch die Matrix hat sich verändert, seit Case den run auf die Tessier-Ashpool KI unternahm. Alte Cowboys wissen von anderen Zeiten, und ihre Erzählungen beginnen mit „When it changed...“. Plötzlich gibt es Geister im Netz, Legba, den Herrn der Kreuzungen, der Punkt der Synthese aller Magik/Kommunikation, und andere. Sie reiten ihre Pferde, auserwählte Console-Jockeys, und Bobby -„CountZero„-Newmark ist einer von ihnen. Obwohl bei ihm alles ganz einfach beginnt, keine Spur von diesem afrikanischen Voodoo-Zeug; er kommt nach Hause, seine elektronische Striptease-Peepshow begrüßt ihn: „Bobby, komm, spiel mit uns“ - Holographien, schon leicht defekt flackernd -, und er setzt sich an sein Deck, schiebt den ICE-breaker hinein und startet den run. Aber, goddamfuckinshit, es läuft schief, das angepeilte Ziel verfolgt ihn zurück und beginnt ihn einzufrieren - hirntot. Da hört er die Mädchenstimme..., und irgend etwas rettet ihn.
Kunst, Wissenschaft und big biz gleichen sich immer mehr an, verschmelzen miteinander. Josef Virek ist der Boß einer der größten corporations der Welt, teilweise bekriegen sich seine Subunternehmen, doch Virek sieht das eher gelassen. Er haust in einem lagerhausgroßen Lebenserhaltungssytem, und dank seiner kapitalen Potenz, dank Cyberspace und Holographie, hat er verschiedenste Möglichkeiten der Manifestation. So kann er einen Vortrag über „Autistisches Theter“ halten (im amerikanischen Original in deutsch), und von daher ist er auch Marly ein Begriff. Diese wird von Virek angeheuert, einen Künstler ausfindig zu machen, einen Künstler, der einige Kästen, angefüllt mit Präzision und Trauer, fertigte, von dem aber ansonsten keine Spur aufzufinden ist.
Turner ist ein Merc, ein Söldner, auf keiner Lohnliste stehend, unabhängig und ein Profi im Ausfindig-Machen von Topwissenschaftlern, die ihren Arbeitgeber verlassen wollen. So zum Beispiel Mitchell, der für Maas-Neotek an der Entwicklung von Bio-Chips arbeitet und zu Hosaka wechseln will. Die corporations lassen ihre Spitzenleute jedoch nur ungern zur Konkurrenz entweichen, und so ist es Turners Auftrag, Mitchell rauszuholen... Es gibt ein Gemetzel, jemand spielt falsch, doch einer Person gelingt zusammen mit Turner die Flucht: Angie Mitchell, die Tochter.
Neuromancer ist unglaublich schnell, der Plot drängt weiter, die Sprache ist knapp wie bei Hammett, und überall gibt es eben diese kleinen street-tech-Errungenschaften. Count Zero ist wesentlich breiter angelegt, und Gibson zeigt sehr viel Stilbewußtsein; Markennamen und klare Bilder. Virek existiert bevorzugt in einer Sim-Stim-Projektion des Gaudi-Parks in Madrid; Bobby trifft auf die Dudes, die Männer dahinter, Schwarze mit dem Stil der 20er, die in einer Arcology einen Hain geheiligter Bäume hegen; und Bobby lernt den Finnen kennen. Der Finne hockt tief im Sprawl, jenem gigantischen Gebiet, daß zwischen Boston und Atlanta liegt, in einem schäbigen Verschlag, kranke Augen und street-talk. Er sammelt Bücher (!!!), die an den Wänden aufgestapelt sind und vergilben. Er ist einer der alten Cowboys, und auch er weiß, daß sich etwas verändert hat. Angela Mitchell hat von ihrem Vater ein krebsartiges Geschwür in den Kopf implantiert bekommen, daß sie träumen macht. Bio-Chip. Durch sie sprechen die Götter der Matrix, und diese führen sie und Turner hinein in den Sprawl, wo Fullers geodätische Kuppeln das gesamte Areal bedecken und ein eigenes Sprawl-Klima erzeugen. Dort trifft sie schließlich auch Bobby, der sich ihrer Stimme erinnert...
Marly, inzwischen von den verachtenswerten Zielen Vireks und seiner gewaltigen Kontrollmaschine überzeugt, versucht dessen Machtkreis zu entfliehen, findet den Künstler... Weit draußen im Orbit arbeitet die KI der Tessier-Ashpools in deren stillgelegten Vergnügungssatelliten vor sich hin, singt von den Erinnerungen an eine untergegangene Familie, singt von Zeit und Distanz. Virek wollte die KI, um zu werden wie sie, unsterblich, der Matrix gleich, doch Bobby kam dem zuvor. Mit Hilfe von Samedi, dem Gott der Friedhöfe, dringt er durch dickstes ICE in Vireks Gaudi-Park -Simulation vor; Samedi tötet Virek.
Der Roman schließt mit einigen unbeantworteten Fragen, jedoch etlichen Andeutungen. Die loas, die seit „der Veränderung“ erst auftreten, Angela Mitchells Implantat, die scheinbar unzusammenhängenden Schritte, die jedem subplot zugrunde liegen und die dennoch hinterher zueinander führen - all das scheint auf einen großen Planer hinzuweisen; ja, und es gibt auch Cowboys, die sich Sockets (Hard- und Software, die durch Stecker hinter dem Ohr direkt mit dem Gehirn verknüpft sind; Übersetzungsprogramme, oder Scanner zum Beispiel) mit Null -Info verpassen, um dem weißen Rauschen der Matrix zu lauschen; „Gott spricht gerne mit sich selbst.“
Mona Lisa Overdrive schließt die Trilogie ab. Wieder werden Handlungselemente der beiden vorherigen Romane eingeflochten, die subplots sind untereinander vernetzt und rückbezüglich. Alle Protagonisten tauchen in der einen oder anderen Form wieder auf: Der Finne ist verstorben, doch hat sich zuvor in die Matrix gerettet; er sitzt als Maschinenorakel mit Laser bewaffnet an einer Mauer im Sprawl. Junge Schwarze bringen ihm Wodka und Kokain als Dankopfer. Molly, inzwischen gealtert und Geschäftsfrau geworden, muß noch einmal street-samurai sein. „Deine Kreditkarte kannst du jetzt vergessen, jeder Taxifahrer, jeder Imbiß, den du damit bezahlst, hinterläßt einen Silberstreifen im Cyberspace, deutlich sichtbar für jedermann„; Bobby ist abgestürzt und ein Neuroelectronicsjunkie geworden, der unter einem riesigen Bio-Chip hängt und träumt, träumt, träumt. Er kann unendlich viele Universen in diesem Speicher gestalten und niemand stört ihn - der Bio-Chip ist nicht an die Matrix angeschlossen. Angela Mitchell, inzwischen Sim-Stim -Megastar geworden, hört noch immer Stimmen, doch die loas reiten sie nur noch selten.
Mona Lisa Overdrive wuchert um Neuromancer und Count Zero herum, bringt jede Menge Hintergrundinformationen, durch die alles sehr viel klarer wird (die Anfänge des Cyberspace, die einzelnen Biographien). Der Hauptplot jedoch dreht sich vor allem um eins: Gibson mag keine Süchtigen.
200 Kilo psychotisches Fleisch bilden eine Barbesitzerin, die nur noch im Isoliertank liegt und sich FreebaseIV in die Vene tröpfeln läßt. Mona Lisa, die Titelheldin, ist witz -/speedsüchtig. Angie Mitchell hing an Designerdrogen. Der Count hängt in seinem Bio-Chip, sein Körper in einem Rollstuhl. Die Schilderungen der Armut der „Straße“ erinnern an Selby, haben aber die Zusätze gentechnologischer Unfallmonster (Küchenschaben mit zwei, drei oder keinen Köpfen), Gefängnistherapien auf Chemiebasis und allgemeiner Umweltverschmutzung.
Big Biz versucht diesmal Angela Mitchell zu bekommen. Mona, eine Prostituierte von der Straße, die eine gewisse Ähnlichkeit mit ihr besitzt, wird mehr oder weniger entführt und soll als ihr Double gelten. Doch die Rebellen, die crazies und Vergessenen scheinen dem Plan entgegenzuarbeiten. Zuletzt treffen sich alle Beteiligten bei Bobby in einer verödeten Fabrik, es kommt zum Showdown, bei dem ferngesteuerte Maschinen (greetings to „Survival Research Laboraties“) gegen die Sicherheitskräfte antreten. Und es klärt sich, was es denn mit dem Implantat von Angie auf sich hat; die KI gab ihrem Vater die nötigen Informationen für seine Forschung, unter der Bedingung, daß dieser seiner Tochter eben diese Schnittstelle einzupflanzen habe. Die KI beherrschte gar die ganze Matrix, wurde die Matrix, in dem sie mit anderen Bewußtheiten verschmolz, und so gelangten auch die loas zu ihrer Existenz: Maschinensplitter.
Der Roman ist sehr viel verhaltener als seine Vorgänger, melancholischer in seinen Bildern. Bobby und Angie sterben „Es gibt sterben und sterben“ -, retten sich jedoch in den Cyberspace. Dort finden sich denn auch die meisten anderen Verstorbenen und humanoiden Programme; die Matrix pulsiert und richtet sich aus nach der nächsten Verschmelzung - im System Alpha Centauri.
Die Verbindung von menschlichem mit elektronischem Bewußtsein kann nur ein erster Schritt sein.
Rudolf Stoert
William Gibson, Neuromancer, Count Zero, Mona Lisa Overdrive eine Trilogie, alle als Heyne-Science-fiction 1988 (in deutsch)
Die amerikanische Originalausgaben sind über Pociaco's Books (Prinz-Albrecht-Straße 65, 5300 Bonn) zu beziehen
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