piwik no script img

CDU-Zuwanderer verpesten AL-Umwelt

■ Steigende Mieten, verbautes Grün - Diese Folgeprobleme kann die Zuwanderung aus Ost und West schaffen, heißt eine neue Position in der AL / Aussiedler aus dem Osten sichern CDU-Wahlsiege, aber „Weiter so“ geht es dann nicht - meint AL-Politiker Volker Härtig

Eine Vision der späten neunziger Jahre: Die Einwohnerzahl West-Berlins, jetzt noch unter zwei Millionen, ist um 15 bis 20 Prozent gewachsen. Die letzten Freiflächen in der Innenstadt werden mit Wohnhäusern bebaut. Doch die teuren Neubauten nutzen denjenigen zuletzt, die die verschärfte Wohnungsnot am meisten trifft: den alleinerziehenden Frauen, Studenten, Arbeitslosen. Noch mehr Autos blasen noch mehr Abgase in die Luft. Die Grünflächen am Stadtrand schließlich werden von Erholungssuchenden fast schon niedergetrampelt. Ein Horror-Panorama, das zwar vielfältige Faktoren außer Acht läßt - dennoch keine Fieberphantasie.

Das Szenario stammt vom AL-Abgeordneten Härtig. Es beruht auf Zahlen, die in der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Umweltschutz intern zusammengestellt wurden. Bis 1995, so die Senats-Annahme, gibt es 110.000 zusätzliche Haushalte in der Stadt. Zuwanderer aus Westdeutschland und ab 1993 aus der EG stehen hinter dieser Zahl, außerdem die kleiner werdenden Haushaltsgrößen. Dazu, so die Senats-Vermutung, könnten in den nächsten zehn Jahren weitere 53.000 bis 66.000 Haushalte kommen: in ihnen leben dann die 160.000 bis 200.000 Aussiedler und DDR-Auswanderer, die nach dieser Rechnung in Berlin bleiben. Grundlage dieser Zahl ist die (großzügige) Annahme, daß bis zu zwei Millionen Deutsschstämmige aus Osteuropa und der DDR ausreisen. Zehn Prozent dieser Gruppe, das bestätigt auch die Senatssozialverwaltung, bleiben erfahrungsgemäß in West -Berlin.

Härtig findet das besorgniserregend. Immerhin läßt sich jetzt schon eine neue Wohnungsnot registrieren. In den letzten drei Jahren wuchs die Einwohnerzahl der Stadt um insgesamt 50.000 Menschen. Allein dadurch ist nach Härtigs Rechnung bereits ein Fehlbedarf von 11.000 Wohnungen entstanden. 20.000 Aussiedler und DDR-Auswanderer werden dieses Jahr erwartet. Der Senat stockte deshalb vorsichtig sein Wohnbauprogramm für die nächsten drei Jahre auf: erst um 2.000, am Dienstag jetzt um weitere 1.200 Wohneinheiten. Schon kursiert die Planziffer von 7.500 (statt 5.000) neuen Wohnungen jährlich. Doch wie selbst das bisher beschlossene Programm finanziert werden kann, ist noch unklar.

Eins wurde kürzlich bekannt: Der Senat denkt an Subventionskürzungen bei den Mieten. Damit bastelt er eine Zwickmühle, denn ohne ausreichenden Wohnungsbau steigen die Mieten erst recht. Daß der Senat mit dem „Weißen Kreis“ die Mieten freigegeben hat, müßte ihn spätestens jetzt reuen. Die Opposition hatte eben doch recht: Berlin hat kein Umland.

Sicher kein Zufall, daß sich jetzt ausgerechnet ein AL -Politiker traut, einen Zielkonflikt zwischen dem Gebot der Humanität und anderen Interessen zu sehen. Denn es geht einerseits um den AL-originären Kampf für eine gesunde Umwelt. Dagegen steht andererseits die Zuwanderung einer Klientel der CDU, sowohl ideologisch als auch praktisch. Andersherum formuliert: die Zuwanderer aus dem Osten können CDU-Wahlsiege sichern. Bloß der Slogan wird vollends falsch: „Weiter so!“ kann Berlin dann nicht mehr machen.

Härtig will lediglich „Fragen“ stellen. Verbieten läßt sich die Zuwanderung von Deutschen ohnehin ebenso wenig wie die Einwanderung aus dem EG-Ausland. Das „Problem“ jedoch, so fordert Härtig, müsse vom Senat bewältigt werden. Beim Senat beschäftigte Stadtplaner und Wohnbaufachleute hoffen auf kleine Schritte. Ein Hoffnungsträger ist der jetzt forcierte Dachgeschoßausbau - trotz der Folgeprobleme für die Infrastruktur. Neben einer anderen Wohnungsbaufinanzierung fordert Härtig auch eine Mietrechtsreform, die Mieterhöhungen stärker begrenzt.

Manche Voraussetzungen des dramatischen Härtig-Szenarios werden von Experten hinterfragt. Wird es der Senat wirklich

-wie geplant - wagen können, Altbauten erneut in größerem Maß abzureißen? Kommen wirklich Hunderttausende von Zuwanderern aus dem Westen und aus dem Osten?

Auch Härtig selbst sieht rückkoppelnde Faktoren in seinem Szenario. Vielleicht, so läßt sich fragen, geht die Zuwanderung zurück und nimmt die Abwanderung zu, wenn die Lebensqualität in Berlin tatsächlich erkennbar sinkt. Härtig stellt jedoch die Frage, ob diese Situation in Sachen Übernutzung in Berlin nicht in mancher Hinsicht längst überschritten ist.

hmt

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen