: Kassel: „Im ganzen Reich der erste Stein“
Wolfgang Prinz, wissenschaftlicher Mitarbeiter der Gesamthochschule Kassel, zu Judenpogromen vor dem 9.November ■ I N T E R V I E W
taz: Nach Ihren Forschungsergebnissen ist es vor dem Judenpogrom am 9.November 1938 zu Pogromen in Kassel und Umgebung gekommen. Was ist dort geschehen?
Prinz: Am 7.November gab es den ersten Pogrom in Kassel. Später haben sich die Nazis rühmend darauf bezogen und gesagt: „Im ganzen Reich der erste Stein flog in Kassel.“ Uns berichtete zum Beispiel ein Pfarrer von einem mitgehörten Gespräch zwischen Polizei und Sicherheitsdienst am folgenden Tag auf der Kasseler Wache. Dort sagten die Beamten: „So haben wir es diese Nacht gemacht in Kassel und nächste Nacht landauf, landab.“
Die Reichspogrom-Woche vom 7. bis zum 14. November begann in Kassel in den Abendstunden des 7. November und vollzog sich wie später in anderen Städten: Die Synagoge und Geschäfte wurden zerstört. Es kam zu Plünderungen. Wir wissen von etwa 1.000 Kasseler Bürgern, die daneben standen und zuschauten, wie eine Gruppe von Aktivisten tätig wurde. Ein Augenzeuge beobachtete, daß sie in Zivil gleiche Stiefel trugen. Später hat der Mann erfahren, daß sie der SS -Verfügungstruppe, genauer: dem zweiten Bataillion der in Arolsen kasernierten SS-Standarte Germania angehörten.
An diesem Abend gab es auch Pogrome in Rothenburg, Bebra, Baumbach und Sontra. Über die Ereignisse berichtete am folgenden Tag die 'Kurhessische Landeszeitung‘. Das hatte zur Folge, daß in der nächsten Nacht es in zwanzig Orten des Gaues Kurhessen losging.
Goebbels hat sich am Abend des 9.November im alten Rathaus München, als er kurz nach der Meldung über den Tod von Ernst vom Rath vor Parteiführern sprach, ausdrücklich auch auf diese genannten Pogrome bezogen. Goebbels berichtete von „Kundgebungen“ in den Gauen Kurhessen und Magdeburg-Anhalt, dabei seien jüdische Geschäfte beschädigt worden. Hitler habe ihm, Goebbels, gesagt, die Partei solle solchen spontanen Ausschreitungen nicht entgegentreten. Die anwesenden Gauleiter haben verstanden, und gaben ihren Gaudienststellen die Parole - vereinfacht gesagt: „Losschlagen, aber nicht in Erscheinung treten“.
Sind die Pogrome in Hessen als Vorlauf für das Nazi -Vorgehen im Reich zu werten?
Nach unseren Forschungsergebnissen muß man das sagen. Bisher nahm man an, daß die ersten Pogrome entstanden aufgrund von anti-jüdischen Hetzkampagnen etwa im 'Völkischen Beobachter‘ nach dem Attentat von Herschel Grynspan auf Ernst vom Rath. Man glaubte, Antisemiten hätten die Pogrome in Kurhessen entzündet. Heute wissen wir, daß dies für die Pogrome am 7.11. nicht gelten kann. Da gab es nur eine kurze Rundfunkmeldung, die 'Abendzeitung‘ berichtete noch relativ neutral. Wie gesagt, wie haben Hinweise auf die Beteiligung von SS-Verfügungstruppe, Polizei und Sicherheitsdienst.
Haben die Nazis diese Pogrome bewußt inszeniert, um Stimmung und Reaktion der Bevölkerung zu testen?
Ja, das kann man sagen. Wir kennen nur bisher nicht die Verantwortlichen auf höchster Führungsebene für die frühen Pogrome. Wir wissen auch nicht, ob die Entscheidungen auf höchster Ebene oder nur in der Region getroffen wurden. Es handelte sich um gezielte Anweisungen und Planungen mindestens auf regionaler Ebene, die nach dem Attentat von Herschel Grynspan erfolgten.
Interview: Petra Bornhöft
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