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Neonazis dürfen Langen „stürmen“

Staatsanwaltschaft Darmstadt stellt Ermittlungsverfahren gegen „Stürmer„-Flugblatt-Herausgeber aus Langen ein / Begründung: Die Ausländerhetze sei „bedauerlich“, ihr liege aber kein „böswilliges Handeln“ zugrunde  ■  Von Klaus-Peter Klingelschmitt

Frankfurt (taz) - Bald werden es Millionen sein. Haben wir Deutsche dann überhaupt noch Platz für uns selbst? Sie essen unser Brot und wohnen unter unserem Dach. Wird ihnen das reichen? Oder werden sie mehr haben wollen? Unsere Arbeitsplätze, unsere Frauen, unser ganzes Hab und Gut?!“ Diese rudimentären Sätze „zierten“ im September dieses Jahres ein Flugblatt mit dem Titel „Der Sturm“, das von der in der hessischen Stadt Langen zur Kommunalwahl im März '89 antretenden „Liste Ausländer Raus - Nationale Sammlung (N.S.)“ angeblich zwölftausendfach in der Stadt verteilt wurde. Langen, so der Aufruf des Flugblattes, das von dem „Statthalter“ des im März aus der Haft entlassenen Michael Kühnen, Thomas Brehl(31), formuliert wurde, soll „die erste ausländerfreie Stadt Deutschlands“ werden. Visualisiert wurde die faschistoide Hetze gegen die ausländischen MitbürgerInnen Langens mit einer Karikatur, die drei Flüchtlinge zeigt, die mit einer Betonwalze den „Deutschen Michel“ überrollen.

Ein Langener Bürger erstattete nach Erscheinen des „Stürmer„-Flugblattes bei der zuständigen Staatsanwaltschaft in Darmstadt Strafanzeige wegen Volksverhetzung gegen den presserechtlich verantwortlich zeichnenden Gerald Hess. Doch die Staatsanwaltschaft stellte jetzt - pünktlich zum 50.Jahrestag der Novemberpogrome - das Verfahren ein. Zwar beinhalte die sogenannte Wahlkampfzeitung der N.S. ein „bedauerliches und im Grunde nicht billigenswertes Verhalten“, doch mit Tatvorwurf der Volksverhetzung habe das Ganze nichts zu tun. Denn Voraussetzung für eine Volksverhetzung sei, daß der oder die Täter einen Bevölkerungsteil „beschimpft, böswillig verächtlich gemacht oder verleumdet“ hätten.

Die Wahlkampfzeitung der N.S. sei „weder ihrer äußeren Form nach besonders verletzend“ noch beinhalte sie den Vorwurf eines schimpflichen Verhaltens oder Zustandes der Betroffenen. Zwar lasse das Flugblatt durchaus ein „verachtenswertes Urteil“ über eine bestimmte Bevölkerungsgruppe erkennen, doch der Straftatbestand der Verächtlichmachung sei nur dann verwirklicht, wenn festgestellt werden könne, daß diesen Äußerungen „ein böswilliges Handeln“ zugrunde liege.

Doch gerade diese Feststellung, so die Staatsanwaltschaft, lasse sich nicht zweifelsfrei treffen, weil der Inhalt als „politische Forderung im Hinblick auf den bevorstehenden Wahlkampf abgefaßt“ worden sei. Das Fazit der Darmstädter Staatsanwaltschaft: „Soweit ersichtlich, tangiert der Inhalt der in Langen verbreiteten Wahlkampfzeitung keine Strafvorschriften.“

Die Neonazis in Langen haben auf ihre Weise auf die Verfahrenseinstellung regiert: Während der Gedenkveranstaltung zum 50. Jahrestag der Pogromnacht verteilten sie antisemitische Flugblätter, auf denen Juden als „schlimmer als der Teufel“ beschimpft wurden und warfen Tränengas in die Menge.

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