piwik no script img

Jenninger vom Faschismus fasziniert

Skandalöse Rede des Bundestagspräsidenten zum Jahrestag der November-Pogrome / Rechtfertigungsversuch der NS-Politik / Annemarie Renger erteilt Grüner-Abgeordneten Redeverbot / Grüne und SPD fordern Rücktritt Jenningers  ■  Aus Bonn Oliver Tolmein

Zu einem Eklat kam es gestern nach der Rede des Bundestagspräsidenten Philipp Jenninger aus Anlaß der Pogrome der Nationalsozialisten gegen die jüdische Bevölkerung in Deutschland 1938. Die Grünen - die wie auch etliche SPD- und FDP-Bundestagsabgeordnete während der Rede den Plenarsaal des Bundestages empört verlassen hatten forderten den Rücktritt Jenningers.

In einer Erklärung nannte die Grünen-Abgeordnete Oesterle -Schwerin die Rede einen Beweis dafür, „daß der Antisemitismus auch in den Herzen von vielen Mitgliedern dieses Hauses vorhanden ist“. Bundestagsvizepräsidentin Renger entzog der Deutsch-Israelin daraufhin wegen Beleidigung von Mitgliedern des Bundestages das Wort und verwies sie vom Rednerpult und schaltete das Mikrofon ab.

Die SPD legte dem Bundestagspräsidenten in einem offenen Brief nahe, sein Amt aufzugeben. Aber auch aus der FDP -Bundestagsfraktion war harsche Kritik zu vernehmen: die Rede könne „den Eindruck hervorrufen, als sollen vergangene Ereignisse gerechtfertigt oder teilweise gerechtfertigt werden“. Die FDP wolle vor einem „Klärungsprozeß“ keine öffentliche Stellungnahme abgeben. Das läßt vermuten, daß auch die FDP den Rücktritt Jenningers für angemessen hält. Aus der CDU/CSU war bis Redaktionsschluß keine Stellungnahme zu bekommen. Jenningers Rede - die sich auch Bundespräsident von Weizsäcker und der Vorsitzende des Zentralrats der Juden in Deutschland, Heinz Galinski, bis zum Ende anhörten - bot eine seltsame Mischung aus oberflächlicher Geschichtsnacherzählung, Rechtfertigungsversuchen und Faszination für die NS-Politik. Umstandslos wertete Jenninger Hitlers Politik von 1933 bis 1938 als „Faszinosum insofern, als es in der Geschichte kaum eine Parallele zu dem politischen Triumphzug Hitlers gibt (...) Wiedereingliederung der Saar, Einführung der allgemeinen Wehrpflicht, massive Aufrüstung, Abschluß des deutsch -britischen Flottenabkommens, Besetzung des Rheinlands, Olympische Sommerspiele in Berlin, 'Anschluß Österreichs‘ und 'Großdeutsches Reich‘ (...) für die Deutschen, die die Weimarer Republik überwiegend als Abfolge außenpolitischer Demütigungen empfunden hatten, mußte dies allein wie ein Wunder erscheinen. Und nicht genug damit: Fortsetzung Seite 2

Kommentar Seite 4

FORTSETZUNGEN VON SEITE 1

Aus Massenarbeitslosigkeit war Vollbeschäftigung, aus Massenelend so etwas wie Wohlstand für breiteste Schichten geworden.“

Zum Pogrom selber, das Jenninger mit den Ausschreitungen im Mittelalter verglich, sagte er recht wenig: „Nur wenige machten bei den Ausschreitungen mit - Der Begriff 'Reichskristallnacht‘ wird heute zu recht als unangemessen betrachtet. Doch gab er die damals herrschende Stimmungs und Gefühlslage ziemlich zutreffend wieder: Eine Mischung aus Verlegenheit, Ironie und Verharmlosung“. Das Pogrom, so Jenninger weiter, „reichte aus, die in anderthalb Jahrhunderten errungene Gleichstellung der Juden auszulöschen“. Jenninger wies auch darauf hin, daß seiner Meinung nach der deutsche Antisemitismus bis zum Nationalsozialismus eher verhalten war „gegenüber der in Ost - und Südosteuropa herrschenden militanten Judenfeindschaft“.

Ausführlich und nahezu ohne offensichtliche und scharfe Distanzierung wiederholte Jenninger die antisemitischen Stereotypen und führte sie anscheinend merkwürdig fasziniert bis in Details aus. Hitlers Antisemitismus erklärte er mit den „ruinierten Träumen des gescheiterten Künstlers (...) den Obsessionen eines sexuell Gestörten“. Auch behindertenfeindliche Sentenzen ersparte Jenninger dem Publikum nicht, als er Himmlers Rassenwahn zu charakterisieren versuchte: „Diese an Idiotie grenzenden Vorstellungen verkündete er mit der ermüdenden Eintönigkeit von Geisteskranken.“ Den Abschluß seiner Rede bildete ein Lob für die „ungeheuren Wiederaufbauleistungen“ der Deutschen, die 1945 einen „tiefen Schock“ erlitten hatten, weil „alle Anstrengungen und Opfer sinnlos gewesen waren“. Zwar erkannte auch Jenninger die ungeheure Verdrängungsleistung der Deutschen, aber er warnte im gleichen Atemzug vor „moralischer Überheblichkeit. Vielleicht konnte das deutsche Volk 1945 gar nicht anders reagieren und vielleicht überfordern wir uns rückblickend selbst in unseren Ansprüchen an die damalige Zeit“.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen