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SINGEN STATT SELBSTMORD

■ Treffen junger Liedermacher '88 am Samstag im Quasimodo

Der fünfte Bundeswettbewerb „Schüler machen Lieder - Treffen junger Liedermacher“ schafft es, daß seriöse (keine ausgetretenen Kippen auf dem Boden!), in Reichtum gealterte Eminenzen und elterlich gesponsorte Berufsstudierer das Quasimodo belagern.

Ei wei, junges Leben - Lotterleben - ein Irrtum. Andacht schwebt über den Besucherköpfen, denn die von einer Jury ausgewählten zwölf LiedermacherInnen geben in Text und Musik ihr juveniles „Lebensgefühl“ wider: „Angst vor Zerstörung des Lebensraumes und Einsamkeit, Sehnsucht nach Liebe, menschlicher Wärme und Nähe“. Das Nasenbein bebt unter dem Druck der momentanen Betroffenheit, als Saubermann Oliver Baxmann aus Niedersachsen, 17 Jahre, den „Schnee im August“ vorfröstelt, denn „der tut weh“ - und warum? Weil es Schnee ist aus „TCDD“ (Tetrachlordibenzo-l-dioxin, bekannt als Seveso-Gift). Erschütternd, so jung und schon so abgeklärt-aufgeklärt.

Die Rock AG des Gymnasiums Rheinfelden (vier Männer zwischen 18 und 19 Jahren) gibt der Umweltdepression mit ihrem schwerverdaulichen „Basler Totentanz“ noch eins obendrauf. Engagierte Text-Aktionen wie diese werden mit interessiertem Beifall begrüßt, auf den Gesichtern meißelt sich der kurzlastige Wille fest, ab morgen könnte-ich-ja-mal -was-ändern.

In der Adoleszens ist das private Innenleben auch schwer gefährdet. Der 18jährige Sven Ablaß aus Hamburg preßt aus einem Luftschacht unter dem rotblonden Schopf Herzergreifendes aus dem Liebesleben hervor, während er sein E-Piano aufgewühlt befingert. Daneben bemühen sich aber noch einige der Deutschmusik-Nachwuchslangweiler, der suizidwürdigen Existenz etwas positives abzugewinnen. Die Krümel's aus Berlin, eine solide Amateur-Rockcombo im Alter von zwölf bis 17 Jahren, trällern nach drei Strophen x -mal sowie zur Zugabe ihren Refrain Solltest du mich mal vergessen, soll dich das Untier fressen, und kriegen als pädagogisch wertvolle Belohnung Dauerapplaus. Ebenso erleichtert das frische Rentner Heinrich-Stück der 13 -14jährigen Schüler der Klasse 8a der Realschule Leck (Schleswig-Holstein) die strapazierten Kopflast-Gemüter. Für Lilie fährt er gar nach Pisa/ und klaut für sie die Mona Lisa/ da gibt sie ihm 'nen dicken Kuß/ jetzt ist mit dem Unsinn Schluß. Aus dem Refrain Überall wo Heinrich steckt/wird sofort was ausgeheckt wird nach der letzten Strophe .../ist die Lilie nicht weit weg. Süßer Kindermund, tust so früh schon Frauenfeindlichkeit kund. Und das unter der Leitung eines Musiklehrers.

Die nachrückende Bänkelsänger-Generation beschallt mit Akustik-Gitarre oder Klavier, predigt wie Reinhard Mey, Klaus Hoffmann, Wolf Biermann, Ludwig Hirsch, Franz J. Degenhardt bzw. was einem so tagtäglich aus dem Deutschlandfunk entgegendudelt und erneuert die Texte durch Zeitgeist-Problematik. Da ist der 16jährige Peter Tilch aus Bayern mit seinem acapella-geschnalzten „Rap-Depp“ ein neo-rhythmischer Lichtblick. Fachliches Können kommt wie immer aus der gründlich geschulten Ecke Rheinland-Pfalz. Jörg Sieper aus Koblenz, 21 Jahre alt, schafft es, Klavier und Saxophon gleichzeitig zu bedienen, ist an der Gitarre keinen Deut schlechter und sinniert lyrisch wie kritisch mit prägnanter Wortwahl. Zu diesem Zeitpunkt hat Ergriffenheit bereits die Menschen auch hinter der Theke erfaßt.

Draußen auf der Straße, als seichtes Licht der Neonlampen wirbelnde Herbstblätter auf dem Asphalt des Kudamms reflektiert, sentimentelt Votoschießer Roland etwas wie: „Besser als Senatsrockwettbewerb...“

Connie Kolb

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