Gandhi in Italien

■ Im Dezember 1931 war der Mahatma im faschistischen Italien. Gianni Sofri ist der Geschichte dieser Visite nachgegangen

Gianni Sofri

Nur selten findet man in Geschichtsbüchern über den Faschismus oder in Biographien Mussolinis Anmerkungen über die Reise Gandhis nach Rom oder Aufzeichnungen darüber, wie Gandhi Mussolini, beziehungsweise den Faschismus, beurteilte. Im Salvatorelli-Mira, einem Standardwerk der Geschichte des Faschismus, heißt es, Gandhi habe in einem Interview im September 1931 Mussolini „dem Retter des neuen Italien“ seine Bewunderung ausgesprochen.

Wegen dieser Aussagen wurde Gandhi von vielen kritisiert. Bei verschiedenen Gelegenheiten antwortet Gandhi auf diese Kritik. Als er mit einer Gruppe gläubiger Christen spricht, sagt er:

„Ihr setzt (durch Eure Überlegungen) voraus, daß Diktatoren wie Hitler und Mussolini nicht bekehrt werden können. Doch der Glaube an die Gewaltlosigkeit basiert auf dem Gedanken, daß die Natur des Menschen in ihrem Wesen eins ist und von daher auf Bezeigungen von Liebe anspricht. Man muß sich einmal vor Augen führen, daß auf die Gewalt, die von Hitler und Mussolini ausgeht, immer nur mit Gewalt geantwortet wurde. In ihrer Erfahrungswelt haben sie sich nie einem gewaltlosen Widerstand, von einer gewisser Dauer gegenüber gesehen. Folglich ist es nicht nur wahrscheinlich, sondern wie ich meine, sogar sicher so, daß sie angesichts eines derartigen gewaltlosen Widerstands erkennen müßten, wie sehr diese Gewalt allen Gewalten, die sie fähig sind auszuüben, überlegen ist. Außerdem hängt der Erfolg dieser Technik, die ich den Tschechen empfahl, nicht vom Wohlwollen der Diktatoren ab. Denn derjenige, der sich der Gewaltlosigkeit verschreibt, vertraut sich der unfehlbaren Hilfe Gottes an. Er hilft ihm trotz Schwierigkeiten, die ansonsten als unüberwindlich gelten würden, seinen Weg zu finden. Es ist sein Glauben, der ihn unbesiegbar macht.“

Zeitweise betrachtete Gandhi Hitler als einen Kriminellen; dann wieder als einen, dem es gelungen ist zu zeigen, daß ein besiegtes Land aus seiner Asche wieder auferstehen kann und sogar in der Lage ist, sich den Großmächten zu stellen. Ein Mann, in diesem Punkte Mussolini ähnlich, aber ähnlich auch ihm selbst: Gandhi. Es wurde beobachtet, daß die Grundeinstellung Gandhis zu den Diktatoren das Mitleid war: denn eine Erlösung war für sie unmöglich. Gandhi über die Judenfrage

Von 1938 an begann Gandhi sich auch mit der Judenfrage zu beschäftigen. Er war den Juden wohlgesinnt, auch wenn er die Art ihrer Rückkehr nach Palästina kritisierte, ihre Art Gewalt anzuwenden, anstatt friedlich mit den Arabern zu verhandeln. In jenem Jahr schreibt er im 'Harijan‘:

„Die Juden haben meine volle Sympathie (...) sie sind die Unberührbaren des Christentums gewesen (...) Trotzdem ist die Judenverfolgung in der Art, wie sie heute in Deutschland betrieben wird, beispiellos in der Geschichte. Die Tyrannen von damals haben es nie bis zu einem solchen Wahnsinn wie Hitler getrieben (...). Gäbe es einen gerechten Krieg, einen Krieg im Namen der Menschheit, ein solcher Krieg wäre voll gerechtfertigt gegen Deutschland, um die Verfolgung einer ganzen Rasse zu verhindern. Doch ich glaube an keinen Krieg ...

Wäre ich ein Jude und in Deutschland geboren, so würde ich auf der Feststellung bestehen, daß Deutschland genauso meine Heimat ist, wie auch die Heimat des wichtigsten deutschen Heiden. Ich würde die Heiden dazu herausfordern, mich umzubringen oder mich ins Gefängnis zu werfen. Ich würde mich weigern, mich ausweisen zu lassen oder mich irgendeiner Diskriminierung zu unterwerfen. Und damit würde ich nicht warten in der Hoffnung, daß die anderen Juden sich mit mir in meinem passiven Widerstand vereinten, sondern ich würde darauf vertrauen, daß sie letztenendes sicher meinem Beispiel folgen würden.

Wenn ein Jude oder alle Juden meiner Empfehlung folgten, würden sie so ihre Situation sicherlich nicht verschlechtern. Das freiwillige Leiden würde in ihnen eine so große innere Kraft und Freude erzeugen, die keine Solidaritätskundgebung außerhalb Deutschlands in ihnen auslösen könnte. (...) Wenn die Juden auf dieses freiwillige Leiden geistig vorbereitet wären, könnte sich auch ihr Massaker in eine Form von Dankbarkeit und Freude transformieren, in Etwas, was von Jehova für die Befreiung der Rasse so gewollt ist, wenn auch durch die Hand eines Tyrannen. Dem Gottesfürchtigen flößt der Tod keine Angst ein. Er ist nichts als ein glücklicher Schlaf, auf den ein Wiedererwachen folgt, das der lange Schlaf selig macht.“

Im weiteren Verlauf dieses Artikels vergleicht Gandhi die Situation der Juden in Deutschland mit der der Inder in Südafrika ein paar Jahrzehnte zuvor. Die Situation der Juden erschien ihm allerdings, was die Möglichkeit Satyagraha anzuwenden betraf, eindeutig als günstiger. Hierdurch - und auch durch andere Artikel, die er in dieser Zeit verfaßte, erscheint die Position Gandhis recht klar. Das Hitlertum bedeutete die Erhebung der rohen Gewalt, auf den Rang einer exakten Wissenschaft und somit seine Ausführung mit wissenschaftlicher Genauigkeit. Und: „Ich zweifele nicht daran, daß er (Hitler) auf menschliches Leiden empfindlich reagiert, auch dann, wenn er selbst dafür verantwortlich ist.“

Jedenfalls sollte und konnte das Hitlertum nicht mit Gegenhitlertum, also roher Gewalt, bekämpft werden. Das hätte nur zu einem noch schlimmeren Hitlertum geführt. Der gewaltlose Widerstand schien Gandhi die einzig mögliche Waffe zu sein; sei es im Bereich der zwischenmenschlichen Beziehungen, sei es im Inneren einer jeden Nation. (Gandhi würdigte 1940 den „Mut“ der französischen Staatsmänner, die sich „dem Unvermeidlichen gebeugt hatten, es aber ablehnten, zu Komplizen eines absurden Massakers zu werden.“) Er sah für die von den Nazis verfolgten Juden keinen anderen Weg als den Weg der Gewaltlosigkeit, seiner Ansicht nach die einzige Alternative zu einem unnötigen (und unmöglichen) bewaffneten Widerstand. Ein Widerstand, der darüberhinaus ethisch vertretbar wäre und außerdem eine Alternative zur ergebenen Unterwerfung, die jeglicher Würde beraubt wäre. Gandhi war in der Tat gegen den Gebrauch von Gewalt, nichtsdestotrotz war er ein Anhänger des passiven Anerkennens von Übergriffen. Der polnische Widerstand

Interessant ist die Art, wie Gandhi 1940 über den polnischen Widerstand während der deutschen Besetzung redet. Er definiert diesen Widerstand als „fast gewaltfrei“:

„Wenn ein Mann mit einem Schwert allein gegen eine Horde von bis an die Zähne bewaffneten Räubern kämpft, so behaupte ich, daß er fast gewaltfrei kämpft. Habe ich nicht auch unseren Frauen gesagt, daß, wenn sie zu ihrer Verteidigung die Fingernägel, die Zähne und auch das Schwert benutzen, sie meiner Ansicht nach gewaltfrei kämpfen? Eine Frau kennt den Unterschied zwischen Himsa und ahimsa nicht. Sie reagiert instinktiv. Nehmt einmal an, daß eine Maus beim Kampf mit einer Katze zubeißt, um zu überleben. Würdet ihr diese Maus als gewalttätig bezeichnen? Der Widerstand der Polen gegen die ihnen zahlenmäßig und von der Bewaffnung her überlegenen Horden von Deutschen, war vergleichsweise tapfer und fast gewaltlos.“

Viele Juden protestierten gegen diese von Gandhi vertretenen Ansichten. Auch sein alter Freund Hermann Kallenbach, der mit ihm in Sevagram lebte, war bestürzt: „Vom Verstand her - so schreibt Gandhi - glaube er an die Gewaltlosigkeit, doch er sagt, er könne nicht für Hitler beten ...“ Gandhi selbst gibt im 'Harijan‘ den Artikel eines Juden wieder, der gegen ihm polemisierte:

„Ihr habt recht zu glauben, daß, sobald einmal eine bestimmte Schwelle überschritten ist, das Gefühl der Ohnmacht oder das Gefühl der Verzweiflung eine völlig natürliche Reaktion ist. Und nicht diese heldenhafte Reaktion, die Gandhi vorzeichnet. Das ist besonders dann so, wenn die Leute, auf die diese Katastrophe einstürzte, von ihrer Geschichte und ihrer Psyche her unvorbereitet sind. Folglich reagieren sie auf diese Katastrophe unbeholfen und töricht. Ein jüdischer Gandhi in Deutschland - falls je einer auferstehen sollte - würde gerade fünf Minuten lang „bestehen“, bevor ihn ein Gestapomann abführen und nicht ins KZ, sondern direkt unters Fallbeil bringen würde. Wenn Gandhi von den indischen Massen einfach Heldentum verlangt, dann verlangt er von den Juden eine Art „Superheldentum“, das es in der Geschichte noch nie gab. Indem Gandhi die Situation der Inder und der Deutschen auf die gleiche Stufe stellt, tut er den Juden - bestimmt ohne es zu wollen Unrecht.“

1946, als der Krieg zuende war, wurde Gandhi von Louis Fischer auf diese Punkte hin angesprochen. Gandhi verteidigte seine damaligen Aussagen:

„Hitler hat fünf Millionen Juden umgebracht. Er ist der größte Kriminelle unserer Zeit. Aber die Juden hätten sich der Gefahr ausliefern müssen. Sie hätten sich von allein ins Meer stürzen sollen, von einem Felsen runter... Das hätte die ganze Welt gegen das deutsche Volk aufgebracht... So sind - in jedem Fall - Millionen von ihnen zu Tode gekommen.“ Gandhis Brief an Hitler

Am 23. Juli 1939 schrieb Gandhi an Hitler einen eigentümlichen Brief, der unter einem respektvollen, wie es scheint, heiterem Ton eine tiefgehende Dramatik verbirgt. (Allerdings wurde der Brief, da er von der indischen Regierung blockiert wurde, nicht übergeben.) Gandhi schrieb Hitler, daß einige Freunde ihn gebeten hätten, ihm zu schreiben. Zwar habe er lange gezögert, sich schließlich aber doch von der Notwendigkeit eines Appells überzeugen lassen:

„Es ist offensichtlich, daß Ihr in der heutigen Zeit der einzige Mensch auf der Welt seid, der einen Krieg, der die Menschheit auf das Niveau der Wilderei zurückwerfen würde, verhindern könnte. Ist der Preis den Ihr zahlt, auch wirklich das Ziel, das Euch vorschwebt, wert? Würdet Ihr den Appell eines Mannes, der entschlossenermaßen der Methode des Krieges abgeschworen hat (und das nicht ohne beträchtlichen Erfolg) erhören? In jedem Falle aber, hoffe ich, daß Ihr mir verzeiht, falls ich unrecht daran getan habe, Euch zu schreiben.“

Im Juni 1940 schrieb Gandhi an den Vize, Lord Linlithgow, um ihm mitzuteilen, daß der Krieg verloren schien und bot sich als Vermittler zu Hitler an:

„Dieses Massaker muß aufhören. Ihr werdet den Kürzeren ziehen; wenn Ihr weitermacht, wird daraus ein noch größeres Blutvergießen werden. Hitler ist kein schlechter Mensch. Wenn Ihr heute einhaltet, wird es Hitler genauso tun. Wenn Sie mich nach Deutschland oder woanders hin schicken wollen: ich stehe zu Ihrer Verfügung. Sie können auch das Kabinett darüber informieren.“ Kein Krieg gegen Hitler

Damals durchlebte Großbritannien einen der dunkelsten Momente in seiner Geschichte. Es widerstand den Drohungen Hitlers mit großem Mut. Lord Linlithgow antwortete: „Wir haben uns auf einen Krieg eingelassen und bevor wir unsere Ziele nicht erreicht haben, weichen wir keinen Millimeter von unserer Linie ab.“ Er fügte hinzu „Es wird alles gut gehen.“

Gandhi war vom Krieg erschüttert. Er schreibt - noch im Jahre 1940 - einen dringenden Appell „an alle Briten“, in dem er sie dazu aufforderte, mit dem Krieg aufzuhören, die Waffen niederzulegen und das Schicksal, das Hitler für sie vorgesehen hatte, anzunehmen.

„Ich rufe alle Engländer - wo auch immer sie sich befinden mögen - auf, das Prinzip der Gewaltlosigkeit anstelle das des Krieges zur Lösung von Konflikten (und in jeder anderen Situation) anzuwenden. Eure Staatsmänner haben verkündet, daß dies ein Krieg zur Rettung der Demokratie sei. Es gibt noch viele andere Rechtfertigungen. Ihr alle kennt sie auswendig. Ich glaube, daß am Ende dieses Krieges, sofern es ein Ende geben mag, keine Nation mehr von sich wird behaupten können, eine Demokratie zu sein. (...) Ich ermahne Euch die feindliche Gesinnung aufzugeben, nicht deshalb, weil Ihr nicht mehr in der Lage wäret, den Krieg weiterzuführen sondern weil der Krieg an sich das größte Übel ist. Ihr wollt den Nazismus ausrotten. Aber das wird Euch nicht gelingen solange Ihr mit seinen Methoden arbeitet. Eure Soldaten tun das gleiche zerstörerische Werk wie die deutschen Soldaten. Der einzige Unterschied ist vielleicht der, daß die englischen Soldaten nicht so erbarmungslos wie die deutschen Soldaten sind. Auch wenn das für diesen Zeitpunkt wahr ist: bald werden die englischen Soldaten genauso, wenn nicht sogar noch erbarmungsloser als die Deutschen sein. Denn auf andere Weise kann der Krieg nicht gewonnen werden. Mit anderen Worten: Ihr müßt noch grausamer als die Deutschen werden. Kein auch noch so gerechter Grund kann ein solches wahlloses Massaker, wie wir es mitansehen, rechtfertigen.

Ich will nicht, daß England besiegt wird. Noch weniger aber will ich, daß England mittels geistiger oder körperlicher Brutalität siegte.

Ich halte Euch an, den Nazismus ohne Waffen zu bekämpfen. Oder um mich auf die Militärsprache zu beziehen: mit gewaltfreien Waffen. Legt die Waffen, die ihr tragt, nieder und laßt Euch davon überzeugen, daß Ihr selbst auf diese Art und Weise die Menschheit nicht retten könnt. Ladet Hitler und Mussolini ein, alles von Eurer schönen Insel zu nehmen, alles was immer sie wollen, alles Schöne und Großartige, was Eure Insel hergibt. Gebt ihnen das alles. Aber gebt Ihnen nie Eure Herzen und Eure Sinne. Wenn sie Eure Häuser besetzen wollen, verlaßt ihr die Häuser von alleine. Wenn sie Euch nicht rauslassen wollen, laßt Euch lieber zusammen mit Euren Freunden und Kindern umbringen, als Euch ihnen zu unterwerfen.“

Im Dezember 1940 schreibt Gandhi noch einmal an Hitler und bittet ihn im Namen der Menschheit darum, den Krieg zu beenden. Wenn die Sterne für seinen Krieg gut stünden - sagt er ihm - dann würde das weitere Beharren auf Gewalt irgendwann sicher dazu führen, daß ihm irgendjemand anderes mit seinen eigenen Waffen besiegen würde. Gandhi beschrieb Hitler noch einmal seinen Standpunkt:

„Wir (Inder) widerstehen dem Nazismus genauso wie dem britischen Imperialismus. Wenn es einen Unterschied gibt, dann ist es ein gradueller Unterschied. Ein Fünftel der gesamten Menschheit wurde zu Großbritannien assoziiert. Und das mit Mitteln, für die es niemals eine Rechtfertigung geben wird. Unser Widerstand gegen diese Unterdrückung bedeutet aber nicht, daß wir dem britischen Volk Schlechtes wünschen. Wir versuchen, es zu verändern, nicht, es auf dem Schlachtfeld zu schlagen. Unser Widerstand gegen die britische Vorherrschaft ist gewaltlos. Aber ob wir die Briten nun überzeugen oder nicht - wir machen ihnen ihre Herrschaft unmöglich, indem wir sie gewaltfrei unterminieren. Das ist eine Methode, die schon aus ihrer Natur heraus unbesiegbar ist. Sie basiert auf der Tatsache, daß kein Usurpator ohne ein Minimum an Kooperation - sei sie erzwungen oder freiwillig - von Seiten der Opfer seine Ziele erreichen kann. Unsere Beherrscher können unsere Länder haben, unsere Körper. Aber nicht unsere Seelen.“

Der Brief schloß mit einem Hinweis auf Mussolini:

„Eigentlich wollte ich einen gemeinsamen Appell an Sie und Mussolini richten. Ich hatte die Ehre, Mussolini während meiner Reise nach England beim Roundtable als Abgeordneten zu treffen. Ich hoffe, daß er diesen Brief so betrachten möge, als sei er (mit Veränderungen) auch an Ihn gerichtet.“ Diktatur oder Demokratie?

Gegen Ende der 30er Jahre vergleicht Gandhi die Diktaturen und die Demokratien immer öfter miteinander. 1945 gipfelt er in der Behauptung: „Roosevelt und Churchill sind nicht weniger Kriegsverbrecher als Hitler und Mussolini.“ Beide verbindet in Gandhis Augen: Das allgemeine Akzeptieren von Kriegsgewalt als adäquates Mittel zur Lösung von internationalen Konflikten; die ständige Weigerung, Indien die Unabhängigkeit zuzugestehen; das Andersartige im Gegensatz zu den westlichen Systemen (mehrere Male spricht Gandhi von einem „indischen Weg“, der anders verlaufe, als die von den westlichen Ländern erprobten Wege). Die Feinde meines Feindes

Während des Krieges lehnte die Kongresspartei jegliche Zusammenarbeit mit der britischen Vorherrschaft ab, schreckte jedoch nicht davor zurück, Unterstützung bei den Japanern zu suchen, als gegenbritisches Mittel. (Und viele Vertreter der Kongresspartei versteckten ihre Besorgnis wegen der zeitweiligen Erfolge der Japaner - und Boses - in Birma an der nordöstlichen Grenze nicht). Die Ansicht der Partei hierzu wurde von Nehru außergewöhnlich deutlich ausgedrückt: „Wir sind gegen Hitler und Mussolini“, erklärte er, „aber unsere Aufgabe ist, Indien zu befreien.“ Gandhi selbst reagierte heftig auf die Anschuldigungen, die ihm die Engländer machten: „Ich habe die Nazis und die Faschisten den Abschaum dieser Erde geannt“ sagt er 1943 einem Interviewer. Und in einem Streitgespräch mit Bose und seinen Anhängern schreibt er im April 1942:

„Eins muß klar sein. Wo die englischen Truppen im Kampf mit dem 'Feind‘ stehen, ist es unangebracht auf gewaltfreien Widerstand zurückzugreifen. Es ist kein gewaltfreier Widerstand, der sich parallel zu einem Krieg abspielt oder sich mit der Gewalt zusammentut.“

In Gandhis Schriften und Reden nehmen Hitler und Mussolini immer häufiger die Rolle des Bösen ein. Auch wenn es das Böse war: man konnte ihm nicht mit derselben Gewalt begegnen. Gandhi war, wie wir bereits wissen, überzeugt davon, daß auch Diktatoren wie Hitler und Mussolini menschliche Lebewesen sind und von daher auch bekehrt werden können. Simone Weil

Diese Art der Argumentation Gandhis bildet die Grundlage seiner „skandalösen“ Aussagen, was die Situation der Tschechen, der Juden, der Engländer angeht. Wir finden uns hier dem beunruhigendsten Moment in der Biographie Gandhis und seiner Gedanken gegenüber wieder. Berechtigerweise wurde bemerkt, daß die kulturelle und geographische Entfernung ihm eine klare Sicht auf die wirkliche Natur des modernen Totalitarismus, an den sich seine Ideen schlecht anpassen ließen, verstellten. Es besteht kein Zweifel daran, daß seine Vorschläge bei den Tschechen, Juden und Engländern Gehör hätten finden und mit Erfolg hätten realisiert werden können. Auch vom Gesichtspunkt eines allgemeinen Interesses für die Menschheit her betrachtet. Kürzlich schrieb Josif Brodskij, daß für die Umsetzung von Gewaltlosigkeit ein Rest an Demokratie vorhanden sein müsse und genau das sei es, was auf 86 Prozent der Erdoberfläche fehle. Ich weiß nicht, ob das in dieser Form wahr ist. Aber ich weiß, daß der Nazismus (und wahrscheinlich nicht nur der Nazismus) unendlich weit entfernt von einem solchen Rest war.

Man kann andererseits nicht bestreiten, daß Gandhi ein sehr scharfer Beobachter war. Er erklärte nachdrücklich, daß Krieg zur Verrohung führe und stets der Geburtshelfer für gewalttätige Menschen und Gesellschaften sei. In diesem Sinne entwarf er den - vielleicht einzig möglichen - Weg für die Zukunft. In unserer heutigen Zeit scheinen Ereignisse wie der Kampf der amerikanischen Schwarzen unter Martin Luther King, die Solidarnosc-Bewegung in Polen, die Vertreibung Marcos‘ von den Philippinen in die gleiche Richtung zu gehen, auch wenn sie sich in einem völlig anderen historischen und geographischen Kontext abspielen. Die Standpunkte Gandhis, was den Nazismus betrifft, zeigen auch die Widersprüche auf, die der Gewaltlosigkeit und jedem radikalen jund absoluten Pazifismus innewohnen, auf. (Man bekommt geradezu Lust, diesem die ungeheuerliche, qualvolle europäische Persönlichkeit von Simone Weil gegenüber zu stellen: am Vorabend des Zweiten Weltkrieges war jener überzeugt davon, daß jede Tragödie, auch das Wagnis einer Hegemonie der Deutschen, dem Kriege vorzuziehen sei; und folgert dann, einmal in den Konflikt eingetreten, „nach einem harten inneren Kampf“, den Zerstörungen Hitlers zu folgen, mit oder ohne Aussicht auf Erfolg.“

Doch greifen wir einmal einen dieser Widersprüche auf. Der absolute (also vollständige) Pazifismus muß mit der Geschichte und ihren unendlich zahlreichen Schichtungen, die sich im Laufe der Zeit herausgebildet und sich auf die menschlichen Gesellschaftsformen und ihre einzelnen Individuen appliziert haben, rechnen; diese verschiedenen Schichtungen von Aggressivität, Einteilungen in Volksstämme, Sekten, Religionen, Klassen, Parteien, Denkrichtungen. Man kann von diesen entstandenen Voraussetzungen nicht absehen. Erst recht nicht von der Bedeutung der Aggressivität. Dies führt wiederum dazu, verschiedene Zeiten zu unterscheiden. Es gibt eine sehr lange Zeit - ob man nun will oder nicht der Bildung einer Friedenskultur (um einen mißbrauchten Begriff anzuwenden). Und es existiert eine kurze Zeit, täglich, in der es unsere Aufgabe ist, jedes mögliche Mittel herauszufinden, das einen Krieg vermeiden, beenden oder stunden könnte. Ob es sich nun um einen Krieg handelt, der uns nahe ist oder um einen Kreig, der weit weg von uns, stattfindet. (Es gibt davon in unserer Zeit viele - auch wenn wir sie „friedlich“ nennen.)

Historiker haben festgestellt, daß zwischen 1794 und 1911 das Schiedsgericht funktionierte und 187 bewaffnete Konflikte hat vermeiden können. Ich fand das immer eine äußerst interessante Feststellung und ich denke, sie sollte uns zu denken geben. Wir sind zu sehr an eine Welt der Schwarz-Weißmalerei gewöhnt: auf der einen Seite sehen wir den Krieg (in Großbuchstaben) und auf der anderen Seite sehen wir den inzwischen mehr oder weniger offiziellen Pazifismus. (Von dessen Fehlern und Grenzen es uns aufgrund einer Art von Schweigepflicht normalerweise schwerfällt, zu reden.) Doch dazwischen liegt noch soviel anderes, Schattierungen, von einer fortschrittsgläubigen Kultur ungerechterweise entweder vergessen oder verachtet. Da ist zum Beispiel das Mittel der Diplomatie mit ihrem geduldigen Bemühen, ihrer Flexibilität, mit ihrer Aura des weisen Wirkens, dem Ausüben der vornehmen Kunst des Kompromisses. Bei der Erziehung unserer Kinder haben wir (genau wie unsere Eltern damals bei uns) diese Tugenden immer argwöhnisch und herablassend betrachtet, wenn nicht sogar mit offensichtlicher Mißbilligung. Besonders, wenn wir sie mit anderen 'Tugenden‘ wie der Unnachgiebigkeit, der Folgerichtigkeit, dem festen Standpunkt, der Unbeugsamkeit verglichen haben. Man denke an dss schlechte Gefühl, das das Wort „Kompromiß“ auslöst, in uns auslöst. In diesem Punkt hat sich Gandhi sehr klar ausgedrückt. In seiner Autobiographie schreibt er: „Im Leben hat mich gerade meine Wahrheitsliebe gelehrt, die Schönheit des Kompromisses zu schätzen.“ Und zu Louis Fischer sagte er: „Ich bin ein Mensch, der Kompromissen sehr zugetan ist, denn ich bin mir nie sicher, im Recht zu sein.“ Eine Aufwertung des Kompromisses bedeutet natürlich nicht (und hat für Gandhi nie bedeutet) die Wahrheit, die in jedem von uns ihren Platz hat, zu verleugnen. Slogans wie: 'Lieber rot als tot‘ sind nicht nur unakzeptabel, sondern und vor allem auf falsche Weise realistisch. Beide Zeiten, und die verschiedenen Schichtungen, von denen ich sprach, gehören hierzu. Sie beide gehören zu uns und zu ihnen hat Gandhi uns viel zu sagen. Sie nicht zu unterscheiden ist gefährlich. Nur wenn wir diese Unterschiedlichkeit, die im jeweiligen Kontext liegt, miteinbeziehen, kommen wir unseren Zielen näher. Auf der einen Seite steht die Suche nach einem Frieden hic et nunc, einer Abwesenheit, Aufschub und Eingrenzung von Krieg, Gewalt und Leiden. Auf der anderen Seite steht der langfristige, pädagogische Prozeß, der es uns ermöglicht, die Frage nach dem alten, aber immer aktuellen Problem des dauernden, ständigen Friedens zu stellen. Paradoxerweise kann uns nur der Realismus zu solchen Utopisten machen; die die Ansicht Kants (die der vor etwa 200 Jahren vertrat) zu der ihren machen: „Es geht nicht darum, zu wissen, ob der dauerhafte Friede eine reelle Sache ist oder ein Unsinn (...) doch wir müssen auf seiner Grundlage handeln, als sei er möglich, auch wenn er es vielleicht gar nicht ist.“ Wer die unvollendeten gesammelten Schriften Gandhis durchblättert, wird häufig genug mit dieser genauen, dramatischen Bewußtheit der Schwierigkeit dieser Aufgabe konfrontiert werden, mit der Gegenwart von Aggressivität, Gewalttätigkeit, dem Bösen im Leben der Menschen.

Und doch ist es in einigen Fällen (besonders in hier besprochenen, seine Haltung gegenüber dem Nazismus) schwierig, sich dem Eindruck derf Ungeduld, sich einem Gefühl, als wolle er die Zeiten verletzen, selbst wenn auf dem Friedensaltar eine ganze Generation geopfert wird, entziehen. Der absolute Pazifismus findet einen seiner Hauptwidersprüche im Problem des Verteidigungskrieges. Tolstoj neigte dazu, der Gewaltlosigkeit eine einzige Ausnahme zuzugestehen: wenn ein Kind bedroht würde und in Gefahr wäre. Gandhi erzählte einmal von dem Beispiel eines Mannes, der von dem Wahnsinn besessen war, jeden, der auch nur in seine Nähe kam, zu ermorden und den man nicht hätte lebendig gefangennehmen können.

Doch, einmal ein solches Zugeständnis gemacht, wird es schwierig, eine Grenze zu ziehen. Wie ist es möglich, nicht auf ein Übel zu reagieren, das sich zum Schaden von Unschuldigen neben uns oder direkt vor unseren Augen abspielt? Sicher, die Mehrdeutigkeiten eines Verteidigungskrieges sind so zahlreich wie seine Mißverständlichkeit. Die gesamte nukleare Wiederbewaffnung war „defensiv“ und wurde mit Verteidigungsmotiven gerechtfertigt. Nur in wenigen Ländern heißt der Kriegsminister noch Kriegsminister (und nicht Verteidigungsminister). Die „präventive Verteidigung“ wurde dazu benutzt, einige der brutalsten und barbarischsten Aggressionen in der Geschichte der Menschheit zu rechtfertigen. Doch trotz all dieser Ambiguitäten bleibt das Problem bestehen. Wie soll man jemanden bestrafen, der sich gegen einen Vertragsbruch verteidigt? Wie soll man ein Volk (oder auch eine Regierung mit einem regulären Heer), das sich gegen fremde Eindringlinge wehrt, verhindern? Man kann es ablehnen, die „legitime Verteidigung“ zu benutzen (das ist genau die von Tolstoj vertretene Position). Doch niemanden bestrafen, der sie anwendet. In einer Welt, die noch von der Gewalt beherrscht wird, von vorneherein jede Art von Gewalt abzulehnen, könnte im Umgang mit Aggressionen, Ausrottungen und Völkermord zu Schwierigkeiten führen. Der Aufschrei „Nie wieder Hiroshima“ darf nicht so ausschließlich sein, daß er vergessen läßt, daß auch Auschwitz, Vietnam, Polpot, Afghanistan, nicht mehr in der weiteren Geschichte der Menschheit vorkommen dürfen.

Der radikale Pazifismus tendiert dazu, sich vom Problem der Freiheit zu entfernen, es fast schon stillschweigend zu unterlaufen. Freiheit - oder das ist fast dasselbe - das Problem dessen, was es würdig und wünschenswert macht, in einer friedlichen Welt zu leben. Es geht also um offene Fragen, derer man sich schwerlich entledigen kann. Auch die einfache Geschichte Gandhis, die Geschichte seines zweitägigen Aufenthaltes in Rom im Dezember 1931 hat uns, fast durch Zufall, auf sie stoßen lassen.

Aus dem Italienischen von Felix Hillmann