: Hitziger Wahlkampf in Kanada
In Kanada finden heute Parlamentswahlen statt / Freihandelsabkommen mit den Vereinigten Staaten war Wahlkampfthema Nummer eins / Opposition spricht vom Ausverkauf des Landes / Der konservative Premier Mulroney ist in der Debatte in die Defensive geraten ■ Aus Montreal Monika Bäuerlein
Geduldig schiebt sich die Menschenmenge an der Theke mit Infomaterial vorbei. Ein Flugblatt nach dem anderen wandert säuberlich in die Papiermappen; besonders beliebt ist das Poster mit dem amerikanischen Adler, der drohende Schatten über die kanadische Flagge wirft. Auch die Aufkleber „Freihandel: Kanada im Ausverkauf“ gehen weg wie warme Semmel. Doch die meisten Hände greifen nach den meterhoch gestapelten Büchern, auf deren blauem Hochglanzumschlag eine aufgehende Sonne mit Ahornblatt prangt. Das ist der komplette Text des „Abkommens über freien Handel zwischen den USA und Kanada“. Es ist in Kanada das geworden, was die Mao-Bibel einmal in China war: das meistgeschwenkte politische Buch.
Heute wählt Kanada eine neue Regierung, doch diese Wahl ist längst zu einem Referendum über das Abkommnen geworden, das der konservative Premierminister Brian Mulroney vergangenes Jahr mit den Amerikanern ausgehandelt hat. Der Kampf darum hat die kanadischen Gemüter erhitzt. Pro- und Kontra -Advokaten beschuldigen einander abwechselnd der „Irreführung unseres Volks“ und des „Verrats an unserer Nation“.
David Orchard, ein 37 Jahre alter Farmer aus Saskatschewan, gehört zu jenen, die ihr Leben dem Kampf gegen den Handelspakt verschrieben haben. Sein Kreuzzug hat ihn sogar aus dem Farmland Westkanadas in eine fremde Welt, das französisch-sprachige Quebec, gebracht. In der Montrealer Westmount High School begrüßt er seine Zuhörer mit einem tapferen „Bonchour“.
Orchard hat das blaue Buch mit den Handelsparagraphen vor sich liegen und schwenkt es an den Höhepunkten seiner Rede; etwa, wenn er von 1867 erzählt, als die Vereinigten Staaten sich die Nordprovinzen einzuverleiben suchten („Meine Herren, dieser Kontinent gehört uns!“ rief damals ein US -Senator). Erst unter dieser Bedrohung wurde der Staat Kanada gegründet, und seither haben die USA keine Annexionsversuche mehr unternommen. Doch viele Kanadier fürchten, sanfter Druck und Konsum ohne Grenzen könnten fertigbringen, was Kanonen nicht konnten. „Sehen Sie sich doch um!“ ruft Orchard. „Als sie Florida wollten, haben sie es sich genommen. Als sie Louisiana wollten, haben sie es gekauft. Als ihnen der Sinn nach Texas stand, haben sie es gestohlen. Und uns wollen sie frei erhandeln!“ Rauschender Beifall.
Wenige Tage nach Orchards feuriger Rede spricht an der McGill-Universität in Montreal der Autor des blauen Buches selbst. Simon Riesman, der das Abkommen in jahrelanger Kleinarbeit mit den Amerikanern ausgehandelt hat, beugt sich über das Pult in einem stickigen Physikhörsaal und sagt es jedem, der es hören will: „Sie haben verdammt recht. Dieser Deal wird uns verflucht noch mal den Weg in die verdammte Zukunft öffnen!“
Neben der würzigen Sprache stehen Riesman auch Zahlen und Fakten zur Verfügung. Schon jetzt sind die beiden Länder wirtschaftlich so gut wie verheiratet: 80 Prozent aller kanadischen Ausfuhren und ein Viertel aller US-Exporte gehen über die 9.000 Kilometer lange Grenze. Jeder dritte Job in Kanada hängt vom Handel mit den Vereinigten Staaten ab. Freier Zugang zu größeren Märkten ist gut für kleine Industrieländer, siehe Europa („Aber in Europa tanzen zwölf Mäuse, nicht eine Maus mit einem Elefanten“, murmelt jemand). In Europa und Asien bilden sich Handelsblöcke, da kann Kanada nicht abseits stehen.
Die Konservativen sind in der Handelsdebatte in der Defensive. Noch hofft Premier Mulroney auf einen knappen Sieg. Verfehlt er die Mehrheit und bildet trotzdem eine Regierung, wird er den Handelsdeal kaum durchbringen können. Der liberale Turner könnte versuchen, die linksliberal -grünen Neuen Demokraten auf seine Seite zu ziehen (sie erwarten immerhin 30 bis 40 der 295 Sitze). Doch Minderheitsregierungen leben in Kanada nicht lange, und das Ergebnis wären Neuwahlen schon im nächsten Jahr - eine Vorstellung, die Kanadiern ein gequältes Ächzen entlockt. Einen Vorteil hat diese lange, mühsame Handelsdebatte für die meisten Kanadier gehabt. Im Streit darüber, was sie verlieren könnten, ist ihnen klargeworden, was sie haben. Die Leute in diesem weiten, offenen Land sind keine hitzigen Nationalisten; bis vor 23 Jahren hatten sie noch nicht einmal eine eigene Flagge. Im Gegensatz zu anderen Ländern, die aus Kriegen und Krisen eine Portion Nationalismus zuviel mitgebracht haben, fehlt es Kanada an Bestätigung besonders gegenüber dem Vetter im Süden. Das stille, freundliche, riese Land braucht offensichtlich Identitätskrisen, um sich selbst zu verstehen.
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