piwik no script img

Weibliche Varianten der Selbstverteidigung

■ Besuch beim Jiu-Jitsu und Wendo - der einzigen Selbstverteidigung ausschließlich für Frauen / Ziel: Mehr Selbstbewußtsein

Eine dunkle Straße. Eiskalte Winternacht, Vollmond. Plötzlich: Schritte hinter mir, werden schneller, kommen näher... - Lausitzerplatz, Gneisenaustraße, Frau sei wachsam... - ich drehe mich um, bleibe stehen. Der Typ ist einsneunzig, angetrunken und hält mich am Arm fest: „Naa?“ Ich fühle mich belästigt, doch er läßt nicht locker. Plötzlich will der Riese nach mir greifen. Wie ein Blitz schnellt meine eisenharte Handkante gegen seinen Hals, der Typ sackt in sich zusammen, glotzt völlig fassungslos, während ich schlage, trete und schreie: „Mit mir nicht, Typ. Ich kann nämlich Jiu-Jitsu!“ - Schweißgebadet wache ich auf.

„WHHASS, WHHASS?“ Martha, die Jiu-Jitsu-Trainerin und Mitbegründerin des Selbstverteidigungsvereins für Frauen, sieht mich fragend an, als ich den mattengedämpften Raum, dritter Stock, Hinterhof, betrete. Zunächst will ich nur zuschauen. Sie nickt und schreit weiter: „HHHPPP, HHHPPP, WHHASS, WHHASS!“, während sie wie eine Stahlfeder durch den Raum flitzt. „Schlag, Schlag, Tritt, Tritt“, schon bekomme ich meine erste Lektion mit: Schreien ist das A und O der Selbstverteidigung.

Zwanzig Frauen machen sich unter Marthas Anleitung gegenseitig an, um sich gegen die alltägliche Anmache, der sie ausgesetzt sind, wehren zu können. Sie treten, boxen, schreien und - lachen, was sie hier auch gut können. Denn es sind Frauen unter sich, es herrscht keine angespannte Wettbewerbs- und Konkurrenzkrampfstimmung. Das Gefühl „ich bin klein, schwach und wehrlos“ hat hier kaum eine Chance hochzukommen. Denn aus gutem Grund ist das Training eine rein weibliche Angelegenheit.

Gegen den Vorsprung der Männer in Sachen Kampf- und Schlägerei-Erfahrung kommen Frauen meist nur schwer an. „Männer schlagen sich von klein auf, können viel. Frauen haben schon beim Schreien Schwierigkeiten, können sehr wenig. Und das, was sie können, sollen sie auch für sich behalten.“ (da bin ich dann wohl kein mann. sezza.) Das sind Tinas Erfahrungen, mit denen sie trainiert. Tina ist Wendo -Trainerin. Vor fünf Jahren begann sie aus einer, wie sie sagt, „klassischen Situation heraus“ mit der Selbstverteidigung: Ihre Freundin wurde überfallen und ermordet. Fortan trainierte Tina bei einer Frau, die Wendo in Kanada gelernt hatte. Als diese dann Berlin verließ, machte sich der Wendo-Kurs selbständig: Frauen gaben und geben ihre Kenntnisse an andere weiter. Wendo ist eine Sportart, die Elemente aller Kampf- und Selbstverteidigungsarten, die speziell für Frauen nützlich und wirkungsvoll sind, in sich vereint. Das sind Befreiungstechniken, die weniger Kraft voraussetzen.

Wendo ist keine institutionalisierte Sportart, da gibt es keine Hierarchie, keine Rangordnung, die sich bei asiatischen Kampfsportarten in den Farben der Gürtel widerspiegelt. Auch Wettkämpfe gibt es keine. Die Frauen sollen nicht gegeneinander fighten, sondern sich gegenseitig beibringen, was sie können. Großes Gewicht liegt beim Wendo auf der psychologischen Komponente des Trainings. Jede Kampfsportart erfordert und entwickelt immer auch ein hohes Maß an Selbstbewußtsein, innerer Ruhe, Ausgeglichenheit und Sicherheit.

Das eigentliche Lernziel des Wendo: Frau soll nicht zur Tötungsmaschine a la Rambo gedrillt werden, sondern möglichst so sicher werden, daß sie in Anmachsituationen souverän reagiert, beziehungsweise in diese gar nicht erst gerät. Genau aus diesem Grund findet Tina es außerordentlich wichtig, mit dem Training schon bei kleinen Kindern anzufangen. Auf die Initiative der „Wildwasser-Frauen“ unterrichtet sie eine Gruppe von acht-zehnjährigen Mädchen. Und: Wie die Erfahrung zeigt, ist ein sicheres, selbstbewußtes Mädchen in viel geringerem Maße sexuellem Mißbrauch ausgesetzt.

An der TU wird Selbstverteidigung für behinderte Frauen angeboten. Das Training baut individuell auf die Fähigkeiten jeder Einzelnen auf. In München gibt es sogar Wendo-Kurse für Frauen ab Sechzig.

Die Philosophie dahinter ist klar: Jede kann sich wehren, zur Schwäche ist frau erzogen, aber nicht zur Wehrlosigkeit verdammt. Nicht gut scheint Wendo in der Männerwelt anzukommen. Der Trainer eines kommerziellen Sportstudios behauptete einfach, daß es diese Art der Selbstverteidigung gar nicht gäbe. Der Herr wird sich noch umschauen müssen.

Frauke Gust

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen