: „Im Todesfall ist die Regierung verantwortlich“
Erste genehmigte Kundgebung in Istanbul zum Hungerstreik / Tausende eingekesselt / Einige der 2.000 hungernden Gefangenen in Lebensgefahr / Türkische regierende Mutterlandpartei gerät unter Druck / Justizminister bleibt hart ■ Aus Istanbul Ömer Erzeren
Tausende kommen am Sonntag bei strömendem Regen auf dem Kundgebungsplatz im Istanbuler Stadtteil Sisli zusammen. Der Platz, weitab der Stadt und zu einer Seite von der Stadtautobahn begrenzt, ist von der Polizei abgeriegelt. Erst nach mehrfachen Leibesvisitationen und Ausweiskontrollen gelangt man in den Kessel. Inmitten des Schlamms parken alle 30 Meter Autos mit Männern, die Funkgeräte in der Hand halten: Zivilpolizisten. Selbst auf der Stadtautobahn hat sich eine Hundertschaft postiert. Demonstrierende „Terroristen“ könnten über die Autobahn hinweg entkommen: „Achtung vor dem Recht auf Leben“, heißt das Motto der genehmigten Kundgebung des „Vereins für Menschenrechte“. Die Demonstration will auf die Situation der 2.000 hungerstreikenden politischen Gefangenen aufmerksam machen.
Transparente wurden trotz der Filzung durch Polizei eingeschleust: „Folter ist ein Verbrechen“, „Achtung vor den internationalen Verträgen“. Gemeint ist die von der Türkei unterzeichnete Menschenrechtskonvention.
Die erste genehmigte Kundgebung zum Hungerstreik in den Gefängnissen hat Vorgeschichte. Rechtsanwalt Kanber Soypak, der für das Genehmigungsverfahren das Polizeipräsidium aufsuchte, wurde dort festgenommen und sitzt immer noch ein. Auch 36 Personen, die für die bereits bewilligte Kundgebung plakatierten, können nicht teilnehmen. Sie sind auf dem Polizeipräsidium in Untersuchungshaft.
Mit Knüppeleinsatz und Verhaftungen hat die Polizei zuvor auf friedliche Aktionen der Familienangehörigen der politischen Gefangenen reagiert. Sechs Behinderte, die am vergangenen Donnerstag einen schwarzen Kranz vor dem Istanbuler Justizgebäude niederlegten („Wir möchten nicht, daß die Hungerstreikenden im Gefängnis zu Krüppeln geschlagen werden“), wurden an Ort und Stelle von der Polizei verhaftet. Mittlerweile sind Hunderte, die sich in öffentlichen Aktionen für die politischen Gefangenen eingesetzt haben, selbst Gefangene - in Untersuchungshaft.
Jeden Tag sind die türkischen Zeitungen voll mit den Nachrichten zu dem Hungerstreik, der in der siebten Woche ist. Vier der Hungerstreikenden, Sinan Atli, Hasan Asgar und Nail Kusou, wurden im Koma ins Krankenhaus Eskisehir eingeliefert. Der Verleger Recep Marasli, im Gefängnis, weil er ein Jahrzehnt zuvor kurdische Bücher publizierte, schwebt in Lebensgefahr. Bereits 1984 hatte er sich an einem 49tägigen Hungerstreik im Militärgefängnis Diyarbakir beteiligt. Die von Ärzten geforderte Gehirntomographie wird verweigert. Latif Kizil, Ahmet Özgül und Ahmet Tutulmaz, mit 163 Mithäftlingen im berüchtigten Gefängnis Diyarbakir im Hungerstreik, weisen Blut im Urin nach.
Selbst Fraktionsmitglieder der regierenden Mutterlandpartei drängen auf einen Kompromiß, so der Abgeordnete Ihsan Bedirhanoglu. „Falls in diesem Land Demokratie herrscht, müssen die Probleme der Gefangenen, wie Essen, Trinken, Bekleidung, gelöst werden. Im Todesfall ist die Regierung verantwortlich.“
Doch mit Härte und Kompromißlosigkeit will der Justizminister Mehmet Topac den Hungerstreik der 2.000 politischen Gefangenen brechen. „Die fangen an und hören wieder auf.“ Seit dem Militärputsch sind zwölf Gefangene an Folgen von Hungerstreiks gestorben. Mit einer ministeriellen Verfügung zum Strafvollzug vom 1.August dieses Jahres, die wieder Schikane und Folter in den Gefängnissen auf die Tagesordnung setzt, wurde der Hungerstreik gefordert. Die Persönlichkeit der Gefangenen, denen einen Kapitel in der ministeriellen Verfügung gewidmet ist, soll ausgelöscht werden. Einer der Redner auf der Kundgebung des „Vereins für Menschenrechte“ ist der berühmte Romancier Yasav Kemal. Der zornige alte Mann zieht Paralellen zum Faschismus, redet von „Würde“ und „Folter“. „Der Kampf der Menschenwürde wird den Staatsterror und den Faschismus besiegen. Oder die Türkei wird untergehen.“
Die Kundgebung löst sich ohne größere Vorfälle auf. Kein Knüppeleinsatz. Ich beobachte, wie fünf Polizisten unter den Tausenden einen jungen Mann herauspicken und abführen. Niemand eilt ihm zu Hilfe. „Nur drei Personen festgenommen“, heißt es in den Tageszeitungen von Montag. Alltag, wie gehabt.
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