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Die Debatte: ein Stück Perestroika

■ Heute beginnt in Moskau der Oberste Sowjet mit der Diskussion der Verfassungsreform

Hat Michail Gorbatschow mit seiner harschen Rede vom Sonntag (siehe Seite 1) tatsächlich den Autonomiebestrebungen von Letten, Litauern, Estländern und Armeniern eine Absage erteilt? Oder ist die öffentliche Debatte über die Verfassungsreform nicht ein Zeichen dafür, daß die wichtigste Umgestaltung nicht die der Institutionen, sondern die des politischen Prozesses ist? Der noch unausgereifte und widersprüchliche Entwurf, der heute im Obersten Sowjet diskutiert wird, scheint jedenfalls noch nicht das letzte Wort. Es gibt noch Spielraum - für mehr Autonomie und auch für mehr Demokratie.

Wenn Michail Gorbatschow heute vor die Deputierten des Obersten Sowjet tritt, wird ihn seine Hand wohl nicht mehr schmerzen. Doch sein Zorn dürfte noch nicht ganz verraucht sein. Als er am Sonntag buchstäblich mit der Faust auf den Tisch des Präsidiums des Obersten Sowjet schlug - eine Aktion, die vom sowjetischen Fernsehen übertragen wurde war es mit ihm durchgegangen. In der heftigen Debatte um die Verfassungsreform in der Sowjetunion hatte es die Partei und Staatsführung Estlands im Stile des „kleinen Dorfs in Gallien“ gewagt, dem großen Reformer die Stirn zu bieten.

Kategorisch sprachen sich die Esten gegen die Moskauer Entscheidung aus, das Vetorecht der Republiken zu beschneiden. Sie protestierten gegen den Beschluß des Präsidiums des Obersten Sowjet vom Samstag, in der die „Souveränitätserklärung Estlands“ für „verfassungswidrig“ erklärt wird. „Wir streben weiterhin die Souveränität an“, erklärte Vaino Valyas, der estnische Parteiführer am Sonntag. Der Beschluß vom 15.November, in dem ein Einspruchsrecht gegen die in Moskau beschlossenen Gesetze festgeschrieben ist, soll auch nach Meinung der Repräsentanten der „Volksfront für die Perestroika“ nicht angetastet werden. Die Führung der Volksfront erklärte am Sonntag sogar, das Parlamentsvotum vom 15.November gebe den „Willen des Volkes“ wieder und könne als „politisches Dokument“ nicht einfach abgetan werden. Die Kommunisten Estlands sind nicht bereit, die - immerhin auf dem Papier stehenden - Hoheitsrechte der Republiken zugunsten der Stärkung der Zentralgewalt in der neuen Verfassung aufzugeben. Sie wollen diese Hoheitsrechte jetzt gesichert wissen. Und darin haben sie die volle Unterstützung der überwältigenden Mehrheit der Bevölkerung - hunderttausende von Unterschriften belegen dies.

Auch in Lettland, Litauen, Armenien und Georgien sind die Widerstände gegen die Verfassung groß - nur mit Mühe und viel Druck war es den Emissären der sowjetischen Parteiführung dort gelungen, ähnliche Beschlüsse wie in Estland zu verhindern. Die Gemüter beruhigten sich erst, als gestern die regierungsamtliche Nachrichtenagentur 'Tass‘ meldete, daß der „Verfassungsänderungsentwurf zur Neuordnung der Rechte der 15 Sowjetrepubliken überarbeitet“ wird.

Perestroika live und pur - die Verfassungsdebatte zeugt von der neuen Vitalität in der Sowjetunion. Der Streit hat die Zirkel von Juristen, Parteikadern und informellen Gruppen der Intellektuellen verlassen. Über 200.000 Eingaben wurden aus der Bevölkerung eingereicht, um auf den Entscheidungsprozeß im Obersten Sowjet einzuwirken. Mehr noch: vor einem Monat wurden die Eingaben veröffentlicht.

Obwohl die Diskussion um die Rechte der Republiken die aktuelle Diskussion dominiert, bleibt Kernpunkt der Reform die Trennung von Partei und Staat, die nach den allgemein gehaltenen Beschlüssen der Parteikonferenz im Juni und der Sitzung des Obersten Sowjet Anfang Oktober nun konkretisiert worden ist. Die Sowjets, also die Räte der Revolution von 1917, sollen wieder zu echten Repräsentativorganen des Volkes und zu demokratischen Institution umgewandelt werden. Doch die Sowjetbürger entdeckten noch viele Haare in der Suppe. Da wurde in der Regierungszeitung 'Iswestija‘ die „Öffentlichkeit aller Sitzungen der Sowjets“ gefordert und ihre „Übertragung im Fernsehen“ angeregt. Und Argwohn erweckten die „Schlupflöcher für die Bürokraten“ in den Entwürfen des Wahlgesetzes. Warum heißt es da nur, daß bei den Wahlen mehrere Kandidaten aufgestellt werden „können“ und nicht, daß „mehrere Kandidaten aufgestellt werden müssen“, daß die Bezirke Wahlversammlungen abhalten „können“ und „nicht müssen“? Und ein Korrespondent der 'Moskow News‘ berichtet, viele Leser kritisierten den Proporz, demzufolge ein Drittel der Angehörigen des zukünftigen „Kongresses der Volksdeputierten“ von der Partei und ihr nahestehenden Organisationen bestimmt werden. „Gesellschaftliche Organisationen sollen in den staatlichen Gremien proportional zu ihrem Einfluß in der Bevölkerung vertreten sein“, schreibt ein russischer Ingenieur aus Taschkent. Und ein Wehrdienstleistender aus Leningrad will berücksichtigt wissen, daß „gesellschaftliche Organisationen nichts Ewiges sind. Sie können zerfallen, sich neu bilden und auch ihre inneren Mehrheitsverhältnisse ändern.“ Wie sagte Gorbatschow kürzlich im Gespräch mit dem 'Spiegel‘: Panta rhei - alles fließt. Auch der Verfassungsentwurf dürfte nicht Gorbatschows letztes Wort sein.

er/bk

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