: „Brutstätte für eine europäische Opposition sein“
■ Am Wochenende wollen die Grünen Programm und Kandidatenliste für die Europa-Wahlen im Juni 1989 beschließen / Über die Arbeit der Grünen im Europa-Parlament ein Gespräch mit dem Freiburger Vorsitzenden der grün-alternativen Regenbogen-Fraktion im Europäischen Parlament, Wilfried Telkämper
taz: Bei den Europa-Wahlen im Sommer 1984 zogen die Grünen sieben Tickets für den Straßburger Wanderzirkus. Doch tolle Nummern in der europäischen Arena sind sie uns schuldig geblieben. Rechtfertigt Eure Bilanz denn einen weiteren Auftritt?
Wilfried Telkämper: Auf jeden Fall. Ich denke, daß wir in vielen Bereichen wie Frauenpolitik, Ökologie, internationale Zusammenarbeit, Agrarpolitik, bei den Auswirkungen unserer Industriepolitik auf die Dritte Welt, insbesondere in Menschenrechtsfragen, einiges erreicht haben. Jeder von uns kann für seinen Bereich wohl eine positive Bilanz ziehen. Mit einer kleinen Gruppe, die noch nicht einmal so groß ist wie die grüne Fraktion im Freiburger Gemeinderat, haben wir in diesem Dschungel EG-Europa doch einiges erreicht.
Könntest Du ein konkretes Beispiel nennen?
Ein politischer Erfolg - auch für mich persönlich - war beispielsweise, als das Plenum in Straßburg meinen Bericht zur „Operation Flood“ verabschiedete. Hinter dem Titel verbirgt sich ein Milchprogramm der EG für Länder der Dritten Welt, vor allem Indien. Milchpulver aus der EG wurde und wird nach Indien geschafft, dort wieder verflüssigt und als Milch vertrieben, mit dem Argument, man brauche dort die Milch. Dabei könnte Indien Selbstversorger sein. Was in Wahrheit dorthin exportiert wird, ist eine ähnlich katastrophale Agrarstruktur, wie wir sie in der EG heute haben. Unsere Agrarmisere wird einfach verlängert in die Dritte Welt. Aufgrund des Berichts läuft dieses Programm, das ursprünglich verlängert werden sollte, jetzt aus. Dadurch wird eine eigenständige Entwicklung der Region, für die die „Operation“ konzipiert war, eher möglich, und das ist ja das Ziel einer alternativen Landwirtschaftspolitik für die Dritte Welt. Das war also ein parlamentarischer Erfolg.
Aber wir waren auch außerparlamentarisch aktiv. So konnte ich beispielsweise durch verschiedene Aktivitäten unter Nutzung meines Abgeordnetenmandates erreichen, daß ein politischer Häftling in Thailand, dem täglich die Hinrichtung drohte, begnadigt wurde. Allein das war mir meine Kandidatur wert. Ohne EG-Abgeordnetenpaß hätte ich damals kaum was erreicht. Jede/r meiner FraktionskollegInnen könnte Dir ähnliche Beispiele aus seinem/ihrem Bereich nennen.
Ihr vollführt doch einen ständigen Seiltanz zwischen konstruktiver Mitarbeit im Europa-Parlament, wie Du sie eben exemplarisch beschrieben hast, und genereller Ablehnung dieser Institution. Du selbst hast kürzlich formuliert, die Grünen müßten „die EG-Organe immer wieder als illegitim bloßstellen“. Wäre ein Boykott des Straßburger Zirkus da nicht logischer?
Die Politik der EG wird von den Konzernen bestimmt, die sich bereits länderübergreifend vernetzt haben. Sie werden staatlich unterstützt, nämlich vom EG-Rat, in dem die nationalen Regierungen zusammenarbeiten. Als Parlament können wir da nicht viel bewirken. Gleichzeitig ist es aber wichtig, dieses Forum zu nutzen, um unsere Forderungen zu stellen, Alternativen zu propagieren und eventuell auch etwas zu blockieren. Damit diese Politik der Kapitale und Regierungen nicht so locker durchgezogen werden kann.
Eure Statements in diesem EG-Forum - wie übrigens auch der gräßliche erste Entwurf des grünen Europa-Wahlprogramms sind meist nur ein Sammelsurium altbekannter grüner Positionen von zu Hause. Ich vermisse darin europapolitische Positionen. Die Verwirklichung des Binnenmarktes im Energiebereich wird beispielsweise gravierende ökologische Folgen haben. Doch das Jahrhundertprojekt Binnenmarkt '92 scheint für die Grünen kein Thema.
Das stimmt insofern, als es leider innerhalb der grünen Partei so gut wie kein außenpolitisches Konzept gibt. Es läuft wenig Zusammenarbeit der Leute, die darüber arbeiten. Daher gibt es bisher auch kein europapolitisches Konzept außer so Allgemeinheiten wie „Europa der Regionen“. Das internationalistische Bewußtsein ist in unserer Partei noch gering. Wir als kleine Europagruppe können dieses Manko der Partei konzeptionell nicht wettmachen. Natürlich versuchen wir, die Binnenmarkt-Diskussion in der Partei voranzutreiben.
Bislang aber mit mäßiger Resonanz.
Leider. Im Bundestag ist die Einheitliche Europäische Akte (eine Ergänzung der EWG-Verträge, um die Vollendung des Binnenmarktes zu beschleunigen, d. Red.) diskutiert worden. Da wurden vom Bundestag Kompetenzen nach Brüssel abgegeben. Die Grünen haben es versäumt, schon dort den Widerstand aufzubauen. Die Diskussion um den Binnenmarkt muß jetzt vorangetrieben werden. Du hast den Energiesektor angesprochen. Was nützt es uns denn, wenn wir hier das AKW im Wyhler Wald verhindert haben und nach 1992 der französische, staatlich subventionierte Atomstrom zu Dumpingpreisen aus unseren Steckdosen fließt!
Nachdem Ihr also mit einiger Verspätung die Unabwendbarkeit des EG-Binnenmarktes wahrzunehmen beginnt, scheint die frühere Haltung „EG - nein Danke!“ offenbar der namentlich von Dir mitgeprägten Parole „EG - So nicht!“ zu weichen. Wenn also „so nicht“, wie denn dann?
Bisher gibt es wie gesagt keine Konzepte. Es gibt verschiedene Standpunkte. Ich erhoffe mir von der Bundesversammlung an diesem Wochenende in Karlsruhe eine intensive inhaltliche Auseinandersetzung darüber. Wir müssen meiner Meinung nach klarmachen: Unsere Utopie von Europa ist größer als die EG. Zu Europa gehört Ost-Europa; zu Europa gehören der ganze Süden und die EFTA-Länder. Fakt bei jeder Überlegung ist: Der EG-Binnenmarkt läßt sich nicht mehr abwenden. Die EG wird eine neue Supermacht werden. Da können wir uns nicht mit einem platten „Nein Danke!“ begnügen, sondern wir müssen deutlich machen, wie wir eine europäische Opposition gegen diese Supermacht EG mit ihrem militärischen Apparat aufbauen wollen.
Die Grünen also als Sandkörnchen im Getriebe der Mega -Maschine EG-Binnenmarkt?
Sand im Getriebe zu sein ist mir zu wenig. Es geht um die Herausbildung einer europäischen Oppositionspolitik. Dabei haben grüne Euro-Parlamentarier eine wichtige Funktion. Natürlich müssen sie auch parlamentarischer Sand im Getriebe sein, verzögern, aber gleichzeitig das Forum Europa -Parlament nutzen als Brutkasten für eine kräftige europäische Oppostion. Die kann ich bei den anderen Parteien nicht sehen, auch nicht bei der SPD oder den Gewerkschaften. Die Formulierung einer europäischen Oppositionspolitik muß das Hauptziel der nächsten Grünen-Gruppe im Europa-Parlament sein.
Kennzeichnend für die Entwicklung der EG ist die Schere zwischen ökonomischer und politischer Entwicklung: Der gesellschaftsformierenden Power des Kapitals stehen Strukturen aus der Steinzeit der bürgerlichen Demokratie gegenüber. Im Grunde müssen in der Super-Freihandelszone EG erst wieder Politikfähigkeiten geschaffen werden. Ein Diskussionsansatz könnte der Verfassungsentwurf für eine Europäische Union, den das Europa-Parlament - unter Federführung eines italienischen Abgeordneten der kommunistischen Fraktion übrigens - ausgearbeitet hat, sein. Wird darüber bei den Grünen diskutiert?
Darüber gibt es noch keine Diskussion. Ich vermute, die meisten Grünen kennen noch nicht einmal diesen Entwurf. Das entspricht dem mangelnden internationalistischen und europapolitischen Bewußtsein. Das Problem grüner Politik war bisher eben, daß kaum über den Tellerrand nationalstaatlicher Politik hinausgeguckt wurde. Das ist aber nicht nur bei den Grünen so; das ist ein gesamtgesellschaftliches Manko; das trifft übrigens auch auf die europapolitische Berichterstattung der taz zu.
Liegt ein Problem grüner EG-Politik nicht darin, daß es auf dieser Ebene, anders als im lokalen oder regionalen Bereich, keine aktiven Bewegungen gibt, auf die sie sich stützen könnte?
Genau das macht unsere Arbeit um so notwendiger. Wir haben hier angefangen, etwas Konstruktives aufzubauen, dieses Forum Parlament und seine Infrastruktur zu nutzen. Mit zahlreichen Konferenzen helfen wir bei der grenzübergreifenden Vernetzung von Atomgegnern, Gentech -Kritikern, Agraroppositionellen usw. mit. Diese Hilfestellung zu leisten beim Zusammenschluß europäischer Oppositionsbewegungen ist sehr wichtig. Laß mich noch kurz was sagen zu diesen verschiedenen Politikebenen. Ich hoffe, daß gerade unsere Basis erkennt, wie wichtig die Europa -Politik für sie ist. Europapolitik ist kein Abgehobensein in Brüssel. Europäisches Recht wird zunehmend nationales Recht brechen. Die Auswirkungen europäischer Gesetzgebung werden lokal zu spüren sein. Somit ist Europapolitik auch Lokalpolitik!
Wie steht es um die EG-weite Kooperation grüner Parteien?
Ein großer Durchbruch ist vor wenigen Wochen gelungen: Wir, also die Abgeordneten des grün-alternativen Bündnisses im Europäischen Parlament und die Grüne Europäische Koordination, in der die Parteivertreter zusammenarbeiten, werden eine gemeinsame Wahlplattform zur Europa-Wahl herausgeben. In den letzten Wochen haben wir aktiv die Bildung von Bündnissen in Spanien und Portugal unterstützt. In den Süd-Ländern ist das EG-Problembewußtsein erfreulicherweise viel weiter entwickelt als bei uns.
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