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Vergeßlichkeit im Trubel von Biblis

■ Die Umweltministerien geben den AKW-Zwischenfall zu - und spielen ihn herunter

„Rückhaltlose Aufklärung“ und „bedingungslose Offenheit“ wurden versprochen, als die Atomwirtschaft vor einem Jahr im Hanauer Transnuklear-Skandal am Tiefpunkt ihrer Glaubwürdigkeit angekommen war. Heute steht fest: Zur gleichen Zeit betrieben die Umweltministerien in Wiesbaden und Bonn ein neues grandioses Vertuschungsmanöver. Klammheimlich wurden in allen Leichtwasser-Druckreaktoren technische Veränderungen vorgenommen, Betriebshandbücher umgeschrieben.

Um den schweren Zwischenfall im AKW Biblis herunterzuspielen, tat Betriebsdirektor Meier gestern so, ab ob seine Mannschaft das Riesenrad auf einem Jahrmarkt betriebe: „Im Trubel des Anfahrtbetriebes“ am zuvor abgeschalteten Reaktor habe ein Mitarbeiter „eine Schalthandlung vergessen“. Und: „Vergessen ist menschlich.“

Halb so schlimm - diese Devise hatte man auch im hessischen Ministerum für Umwelt und Reaktorsicherheit ausgegeben. Der Beinahe-Unfall in Biblis sei ein „Vorkommnis, bei dem es jedoch zu keiner Freisetzung von Radoaktivität über die festgelegten Grenzen hinaus kam“. Von einem drohenden GAU beziehungsweise einer Kernschmelze könne keine Rede sein.

Nach dem Bericht des hessischen Umweltministers Karlheinz Weimar (CDU) stellt sich der Ablauf der Ereignisse in Biblis so dar: „Beim Wiederanfahren des Reaktors nach einem Kurzstillstand (von 68 Stunden! die Red.) übersah die Schichtmannschaft ein offenstehendes Ventil im Nachkühlkreislauf.“ Entgegen den Vorschriften wurde das Ventil nicht überprüft. Auch die nachfolgende Schicht habe das Ventil nicht geschlossen. Erst die dritte Schicht stellte am 17.Dezember 1987 morgens um 3 Uhr den Fehler fest.

„Daraufhin wurde der Reaktor abgefahren“, berichtet das Umweltministerium. „Während des Abfahrens wurde jedoch versucht, das Hauptventil durch kurzzeitiges Öffnen eines Nebenventils zu entlasten. Das Ventil konnte dem Druck nicht standhalten: Es kam zur Freisetzung von radioaktivem Wasser.“ Eine unzulässige Radioaktivitätsfreisetzung sei nicht erfolgt. Noch im Dezember sei das Umweltministerium über den Vorfall informiert worden und habe „im Rahmen der Meldefrist die Vorfälle an die in der Bundesrepublik für die Sammlung und Bewertung von Störfällen in kerntechnischen Anlagen beauftragte Gesellschaft für Reaktorsicherheit (GRS) gemeldet“. Für die GRS habe zu „diesem Zeitpunkt kein Anlaß“ bestanden, dem Ereignis „eine besondere Priorität zuzuordnen“.

Tragweite unterschätzt

Erst bei einer späteren „Auswertung des Vorfalls“ im Hessischen Umweltministerium sei „deutlich geworden, daß die Tragweite dieses Ereignisses höher anzusehen war“. Eine Information der Öffentlichkeit über diese Vorfälle habe man ursprünglich noch in dieser Woche - also im Dezember 1988, ein Jahr danach - beabsichtigt. Zu einer Kernschmelze hätte es aber „bei einer Verkettung sehr vieler Versagensmechanismen mit geringen Eintrittswahrscheinlichkeiten“ kommen können. Staatssekretär Popp erklärte zu den Konsequenzen: „Da der Unfall außer auf technisches auch auf personelles Versagen zurück zu führen ist, wurden technische Änderungen und Schulungsmaßnahmen durchgeführt.“ Popp bestätigte damit indirekt Meldungen der taz, wonach im AKW Biblis „Nachrüstungen“ zwar durchgeführt, aber gleichzeitig geheimgehalten wurden.

Der Betriebsdirektor des RWE-AKWs Biblis, Fred Meier, wies die Berichte über einen drohenden GAU zurück. Auch sei nicht schlampig gearbeitet worden: „Es ist eine Schalthandlung vergessen worden. Im Trubel des Anfahrtbetriebes ist es zu diesem ersten Ereignis gekommen.“ Der für den Beinahe-Unfall verantwortliche Mitarbeiter wurde bislang nicht belangt. Meier: „Der Mann ist geschult worden. Der Mann hat gelernt. Vergessen ist zwar nicht schön, aber es ist durchaus menschlich.“

Meier listete weitere Konsequenzen auf, die der Unfall nach sich zog. Die Vorgänge hätten zu „technischen Veränderungen“ und „administrativen Regelungen“ geführt, um ähnliche Vorkommnisse, insbesondere das menschliche Fehlverhalten, zu verhindern. Mit Gutachtern und Behörden seien „intensive Gespräche“ geführt worden. Im Spätsommer oder Frühherbst, so Meier, seien dann die internationalen Kraftwerksbetreiber unterrichtet worden, um sie auf „eventuelle Möglichkeiten und Eventualitäten“ hinzuweisen. Es wurde also alles Mögliche und Denkbare unternommen, nur die Öffentlichkeit wurde nicht unterrichtet.

Die Grünen sind mit dieser Erklärung nicht zufrieden. Sie verlangen eine „unverzügliche und detaillierte Unterrichtung von Landtag und Öffentlichkeit“. Bereits am kommenden Mittwoch soll Weimar im Umweltausschuß „ausführlich berichten“. Für die Grünen steckt hinter der Vertuschung System: „Am gleichen Tag, an dem sich der Störfall ereignete, platzte der Fässer-Skandal bei der Transnuklear. Beides zusammen - in der nach Tschernobyl sensiblisierten Öffentlichkeit - wäre ein schwerer Schlag für die Atomindustrie gewesen“, meint der Grüne Bernd Messinger. „Wir hoffen, Weimar und Töpfer können genau erklären, warum sie die Öffentlichkeit so lange nicht unterrichteten. Sollte sich der Verdacht erhärten, daß sie wegen des damals auf seinem Höhepunkt angelangten Transnuklear-Skandals mauerten, um der angeschlagenen Atomindustrie Schützenhilfe zu leisten, müssen sie sich warm anziehen.“

Die Bonner Oppositionsparteien SPD und Grüne haben am Montag umgehend „schonungslose Aufklärung“ über den Störfall im Reaktorblock A in Biblis gefordert. Während die Grünen -Abgeordnete Lilo Wollny von einem unglaublichen Vorgang und „staatlicher Vertuschungspolitik“ sprach, betonte SPD -Fraktionsvize Harald Schäfer, es sehe so aus, als hätten Atomwirtschaft und politisch Verantwortliche aus den Atomskandalen der jüngsten Vergangenheit nichts gelernt. Die SPD will vor allem wissen, ob mit diesem Störfall ein Systemfehler im Sicherheitsystem der deutschen Atommeiler erkennbar geworden ist. Sie verlangt auch Aufklärung darüber, ob es richtig ist, daß aufgrund dieses Störfalls deutsche Kernkrafwerke nachgerüstet wurden, ohne daß die parlamentarischen Gremien unterrichtet wurden.

Die „Christlichen Demokraten gegen Atomkraft“ forderten Umweltminister Töpfer auf, sich endlich von der Gesellschaft für Reaktorsicherheit und der Reaktorsicherheitskommission zu trennen. Statt dessen solle ein „ständiger atomarer Krisenstab unter der Leitung des Atomkritikers Klaus Traube eingesetzt werden.“ Der Bundesverband Bürgerinitiativen Umweltschutz (BBU) besteht auf einer Untersuchung der Vorfälle durch eine unabhängige Untersuchungskommission unter Federführung des ÖKO-Instituts, erklärte Bundesvorstandsmitglied Eduard Bernhard.

Das Atomkraftwerk Biblis hat allein in den ersten zehn Jahren seines Betriebs, von 1975-1985, 112 bekannt gewordene Störfälle zu verzeichnen. Während der schwere Störfall vom 17. Dezember 1987 nicht öffentlich gemeldet wurde, gaben die AKW-Betreiber im Februar 1988 bekannt, daß am 23. Dezember 1987 Schmieröl in den Rhein entwichen sei. Das Auslaufen von Öl wird gemeldet, ein Störfall der zur Unterrichtung der internationalen Atomindustrie führte, wird nur intern behandelt.

Michael Blum

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