Die Nostalgie der Nelkenrevolutionäre

Portugals Linke hat sich zu einer Amnestiekampagne für Otelo de Carvalho zusammengerauft / Grundkonsens: Es muß endlich ein Schlußstrich unter die revolutionäre Vergangenheit gezogen werden / Ein Besuch bei der zu 18 Jahren Haft verurteilten Symbolfigur der Nelkenrevolution von 1974 / Carvalho rechnet mit Amnestie  ■  Aus Lissabon Antje Vogel

„Die Jahre vergehen. Europa und die Welt verändern sich schnell. Otelo und seine Genossen bleiben im Gefängnis, und vier Jahre sind bereits vergangen. Werden wir sie weiter im Gefängnis lassen, so als ob die Zeit nicht verginge?“ Mit diesen Worten beginnt der Aufruf zu einer Amnestiekampagne für Otelo de Carvalho und 44 Gefangene der FP-25, der „Volkskräfte des 25.April“. Otelo de Carvalho, der populärste Offizier der portugiesischen Nelkenrevolution 1974, ist im vergangenen Jahr wegen Gründung und Führung einer terroristischen Vereinigung zu 18 Jahren Haft verurteilt worden; die Strafen seiner Mitgefangenen aus der FP-25 sind genauso hoch beziehungsweise liegen knapp darunter. Der FP-25 werden verschiedene Attentate und Anschläge in den Jahren nach der Revolution zur Last gelegt.

Der Prozeß selbst war von in- wie ausländischen Beobachtern als Justizskandal bezeichnet worden, als politischer Racheakt des wiedererstarkten bürgerlichen Staates gegen die Protagonisten der Revolution. Durch die Einführung des Begriffs „terroristische Vereinigung“ war - wie in der BRD der Nachweis konkreter Straftaten überflüssig geworden. Als Beweis für Otelos führende Rolle in der FP-25, die dieser immer abgestritten hat, hielten zwei Kronzeugen her. Der Vorsitzende Richter hatte sich gar an der Verfertigung der Anklageschrift beteiligt. Doch während sich die Linke im Ausland schockiert über das hohe Strafmaß zeigte, blieb es in Portugal merkwürdig ruhig.

Das war vor einem Jahr. Als nun Anfang November der Amnestieappell erschien, wurde er innerhalb einer Woche von über 100 namhaften portugiesischen Intellektuellen, Künstlern und Politikern unterschrieben, darunter die beiden ehemaligen Staatspräsidenten Costa Gomez und Eanes und die bekannteste portugiesische Dichterin Natalia Correia. Zu einem Forum zur Unterstützung der Amnestiekampagne, das Anfang November in Lissabon stattfand, erschienen Persönlichkeiten aus dem Umkreis der Sozialistischen Partei bis hin zu linken Splitterparteien. Es scheint sich etwas geändert zu haben in Portugal.

Besuch in Tomar

„Der Geist der Revolution ist wach in diesem Land“, versichert im Militärgefängnis von Tomar Otelo de Carvalho gegenüber der taz. Zwei Stunden fährt der Zug nördlich bis in das Städtchen. Idyllisch am Hang gelegen mit Blick auf Tomar liegt das Militärgefängnis. Niedrige weißgestrichene Gebäude, von grünem Rasen umgeben, wäre da nicht die Mauer außen herum, von Wachtürmen durchbrochen, würde nicht das Tor streng bewacht. Der Gefangene trägt Uniform - solange das Urteil nicht rechtskräftig ist, hat er seinen militärischen Rang weiter inne. Die vier Jahre Haft sind ihm nicht anzusehen. Freundlich, gelassen und konzentriert wirkt er, nur als er von der Niederlage der Revolution spricht, senkt sich die Stimme ein wenig. Einsam braucht er sich nicht zu fühlen: Er habe jeden Tag mehrere Stunden lang Besuch - unbewacht - und führe eine rege Korrespondenz. Doch darf er nicht ins Freie - aus Sicherheitsgründen. Vier Jahre lang in geschlossenen Räumen. Otelo zeigt sich zuversichtlich. Zwar hätten sie eine Niederlage erlitten und die Zeit der Revolution sei endgültig vorbei. Aber wenn bald eine Amnestie dekretiert werde - und damit rechne er -, dann werde er sich wohl für die nächsten Präsidentschaftswahlen aufstellen lassen. Und mit seiner Wahl zum Staatspräsidenten werde auch die Revolution rehabilitiert.

Rehabilitieren

oder vergessen?

Rehabilitation, die Anerkennung seiner Verdienste um die Revolution, sind für Otelo stets vorrangig gewesen. Erfolglos hat er versucht, auf dem Instanzenweg Recht zu erlangen. Nun bleibt nur noch das Verfassungsgericht, das in der nächsten Zeit entscheiden wird, ob es seiner Klage stattgibt. Aus diesem Grund hat er der Amnestiekampagne auch nur zögerlich zugestimmt, denn die basiert auf einem ganz anderen Verständnis der augenblicklichen Lage. „Die Revolution ist ein abgeschlossenes Kapitel der portugiesischen Geschichte, und gerade deshalb müssen Otelo und seine Genossen aus dem Knast“, verficht Carlos Antunes. Er und seine Frau Isabel do Carmo waren die Hauptangeklagten in dem ersten großen politischen Prozeß nach der Revolution. Vier Jahre lang haben sie gesessen. Heute sind sie Initiatoren der Amnestiekampagne. „Ein Rechtsstaat hat nicht das Recht, Leute im Gefängnis zu behalten, deren Aktionen aus einer abgeschlossenen Phase der Geschichte stammen“, meint auch Antonio Brotas, Uni-Professor, unter der Regierung Soares Staatssekretär und heute der Zentrumspartei PRD nahestehend. Nicht der Geist der Revolution, sondern die Gewißheit, daß sie unwiederbringlich vorbei ist, bildet die Triebkraft für die Kampagne.

Von dieser Übereinstimmung abgesehen, herrscht ansonsten nicht viel Einigkeit unter der portugiesischen Linken. Doch eine offene Auseinandersetzung über die Gründe für das Scheitern der Revolution hat bislang nicht stattgefunden. Die Notwendigkeit der Solidarität gegenüber einer auf Rache eingestellten politischen Justiz hat bislang die dahinterliegenden Konflikte verdrängt und dazu beigetragen, daß sich viele Militante von damals in die innere Emigration zurückgezogen haben.

Ratlosigkeit der Linken

Ist die Revolution fehlgeschlagen, weil der Prozeß zu zögerlich verlief und weil in jenem entscheidenden November 1975 Otelo das Militär zurückgehalten hat, wie Carlos Antunes meint? Oder weil die Militärs die Macht zu früh wieder abgegeben und damit der alten politischen Klasse wieder Platz gemacht haben, wie Antonio Brotas andeutet? Ist sie gescheitert, weil die bewaffneten Aktionen der FP-25 der Rechten den Vorwand lieferten, wieder das Ruder zu übernehmen, wie der Vorsitzende der kleinen Linkspartei MDP, Jose Tengarrinha, analysiert? Oder lag es daran, daß die meisten Militärs keine Revolution, sondern eine bürgerliche Demokratie wollten und ihn deshalb schließlich alleine ließen, wie Otelo angibt? Auch die Rolle Otelos im Zusammenhang mit der FP-25 müßte aufgearbeitet werden. Otelo selbst hat vor Gericht seine Verstrickung in die FP-25 immer bestritten. „Die FP-25 hatte keine Ideologie im Kopf und keine Verankerung im Volk“, erklärt er uns im Militärgefängnis von Tomar. Ehemalige Mitstreiter hingegen versichern, daß Otelo der FP-25 damals keineswegs so ferngestanden hat, wie er heute behauptet. „Zumindest ein Teil der Aktionen, für die er verurteilt worden ist, hat Otelo wohl nicht begangen“, meint Jose Tengarrinha. „Dennoch scheint seine Verantwortlichkeit für die FP-25 zumindest teilweise bewiesen.“

Die Erinnerung an die Polarisierung der Linken in den Jahren nach der Revolution, an ihre internen Kämpfe, ist heute bei vielen wacher als die an die Zeiten des Triumphes. „Es ist gut, daß du mich an die Errungenschaften der Revolution erinnerst“, grinst zynisch Celestino Amaral, damals zur militanten Linken gehörig und heute ein angesehener Journalist. „Ich hatte sie schon völlig vergessen.“

Nur nachts, wenn sie die tazlerin durch Lissabon begleiten, beschwören die ernüchterten Ex-Revolutionäre die Szenen des Aufbruchs wieder herauf. Doch es ist Nostalgie. Der Traum von etwas Vergangenem, von dem keiner glaubt, daß es so bald wiederkommt. Übriggeblieben sind von der Revolution die Gefangenen der FP-25. „Nur eine Amnestie“, so lassen sie verlauten, „kann diesem Stück der portugiesischen Geschichte ein Ende setzen.“