: Leibphilosophie oder die Kraft der inneren Bilder
■ Gegen die Beschränkung der Erkenntnisfähigkeit auf das, was „Vernunft“ genannt wird / Ein „innerer Spürsinn“, der im Leib wohnt, kann erworben werden / Die Suche nach anderen Erkenntnisformen soll nicht die Vernunft abschaffen, sondern dazu beitragen, lebensfähiger zu werden / Innere Bilder - das Wissen, das aus bewußtem Atmen kommt / Aus den letzten Aufzeichnungen der Wissenschaftlerin und Feministin Christel Neusüß
Annegret Stopczyk
Wie im Vortrag „Welche Bewegung macht das Leben„1 werde ich auch in diesem Aufzeichnungen von Christel Neusüß verwenden. Christel gab mir ihre Aufzeichnungen mit der Bemerkung: „Aber mach einen großen Popanz von Theorie drumherum! Gib es nicht theorielos aus der Hand, sonst denken die noch: Die spinnt kurz vorm Tode!“
Und was wir unter „Theorie“ verstanden, das war ungefähr mein philosophischer Ansatz, den ich ausarbeite, seit ich nach Tschernobyl aus der Uni ausgestiegen bin. Mit dem Begriff „Leibphilosophie“ - statt Vernunftphilosophie - gab ich der Konzeption einen Namen.
Christel Neusüß konnte in ihrer letzten Lebenszeit „in Bildern“ erkennen und denken, anstatt in Worten und Begriffen. Das war völlig neu für sie und stand quer gegen ihre vorher mit Lust gelebte, begriffliche oder sprachliche Intellektualität.
Meine Art, Vernunftkritik mit Patriarchatskritik zu verbinden, gibt der Vernunfttradition eine Art „realen Boden“. Die bisherigen Vernunftkritiker haben nämlich geflissentlich darüber hinweggesehen, daß den glorreichen alten Griechen die Vernunft nicht „spontan“ vom Himmel zugefallen ist, sondern: Es war für die sich vaterrechtlich festigenden Polisgemeinschaften (Stadtstaaten) vor 3.000 Jahren notwendig, einen neuen „Gemeinschaftssinn“ zu erfinden, um die edlen Männer dazu zu überreden, für die neue Gemeinschaft (Polis, Staat, Vaterland) als Soldaten ihr Leben aufzuopfern. Es ging darum, den einzelnen Lebenswillen einem herrschenden idealen Sinn zu unterwerfen. Denn daß die meisten Menschen, und auch Männer, an ihrem Leben hängen, ist zu allen Zeiten für alle Herrschenden ein großes Problem.
Vor der „Polisgesellschaft“, in der nur „freie Männer“ bestimmen durften, gab es die sogenannte „Gentilgesellschaft“, in der die sippenmäßigen Gemeinschaftssinne dominierten. Diese Sippenverbände waren vor den Polisbildungen größtenteils bereits in Clan- und Adelsgebilden patriarchalisiert. Kriterium dieses Gemeinschaftssinnes waren „leibliche Bande“, sogenannte „Blutsbande“ oder „Familienbande“, und diese wiederum haben ihr Herkommen aus noch früheren Gemeinschaftsformen, in denen die Mütter nicht nur in den ersten Lebensjahren den Gemeinschaftssinn aller prägten, sondern immerwährend. Das Individuum leitete die eigene Stellung in der Gemeinschaft von seiner „Geburtlichkeit“ her, von der Frau, die es geboren hatte. Diese direkte Art, „Identität zu haben“, trotzt dem späteren Herrschaftsanspruch der Väter. Das sichtbare Band (Mutter) mußte durch ein unsichtbares, Gemeinschaft-bildendes Band ersetzt werden, und dieses wurde „Vernunft“ genannt oder „Logos“. In allen solle die neue Vernunft herrschen und bei tugendsamen Männern zu einem polisgerechten, todesbereiten Leben führen. Auch die abendländische Philosophie mit ihrem Heroen Sokrates entstand in dieser kriegsorientierten Männergesellschaft, wobei Sokrates berühmt dafür war, ein besonders tapferer Soldat zu sein.2
Die Unterwerfung der Frau und die Tabuisierung der Mutterschaft sind Voraussetzungen der „Entdeckung der Vernunft“. Alles, was leiblich war, erinnert an das Geborensein, an die Mutter. „Identitätsbildung“ als „Loslösung von der Mutter“ ist bis heute Standardziel fast aller psychologischen und psychoanalytischen Therapien.
Die Mutter gilt in der Antike als dasjenige Wesen, das zur Polis am meisten in Widerspruch stand, denn der Staat meldete über das Vaterrecht ein Besitzrecht an jenen Wesen an, die sie geboren und mit ihrem Leib ernährt hatte.
Die Auffassung der Patriarchen, wonach nur der sterbliche Leib den Frauen gehöre, nicht aber der Geist oder die Seele der Geborenen, legitimierte das Besitzrecht des Vaters aus „Vernunftgründen“. Vorbedingung war die Behauptung, Geist und Körper seien wesentlich unterschieden. Hegel nimmt diese Auseinandersetzung auf3 und stellt nach antiker Manier fest, daß die Mutter „die größte Ironie des Staates sei“.
Leibphilosophie nun verweigert die Reduktion der Erkenntnistätigkeit auf das, was „Vernunft“ genannt wird, denn die Vernunfterkenntnis ist eine sehr beschränkte Erkenntnisart. Mit meiner Abwendung von der maskulin geprägten Vernunfttradition, die vielleicht tatsächlich gut auf den Männerleib paßt, entdeckte ich bei mir selber eine andere Art „Erkenntnissinn“, der mir zum Beispiel durch Sapphos Gedichte „aufgegangen“ ist. Es geht um eine Sensibilisierung „innerer Feinsinne“, die eine „Rechtfertigungslehre des Leibes und des sterblichen Daseins“ gegen alle „Vergeistigungslehren“ hervorbringen könnte. Handhabbarer Körper
versus Leiblichkeit
Und nun versuche ich, den Bogen zu Christels Aufzeichnungen enger werden zu lassen: Das, was in der Vernunfttradition üblicherweise mit „Körper“ gemeint wird, nämlich ein dreidimensionales Ding, das als Gegenstand benutzt werden kann (und wozu auch unser Frauenleib reduziert wurde), hat nichts mit meinem - und vielleicht einem älteren - Begriff von „Leib“ zu tun. In der Vernunfttradition ist unsere sichtbare Leiblichkeit zumeist tatsächlich zu einer Art „handhabbaren Körper“ veräußerlicht worden. Dieses „Körperliche“ ist lediglich eine Art „Außenansicht der Dinge“, aber unsere „eigenleibliche Innenansicht“ ist durch diese dualistische Vernunfterkenntnis zerstört worden. Was übrig blieb, sind die äußeren „Grobsinne“, während unsere „Feinsinne“ taub geworden sind. „Vernunft“ hat nicht intelligenter gemacht, sondern dümmer. Uns fehlt sozusagen ein „Erkenntnisorgan“, das die vorpatriarchalen Menschen vielleicht noch hatten, und das sogenannte „Primitive“ und manche Kinder noch aktivieren können. Es ist kein mit unseren fünf äußeren Sinnen erfahrbares, „sichtbares Organ“, sondern eines, das „innerer Spürsinn“ genannt werden könnte. Und es ist möglich , diesen zu „erwerben“ oder in sich „aufzubauen“ durch bestimmte Lebensarten, und ebenso ist es möglich, diese Fähigkeit zur „inneren Aufmerksamkeit“ mangels dazu passendem Leben gänzlich „nicht zu haben“. Auch Denken und Erkennen ist an diesen Sinn angeschlossen, und je weniger dieser lebendig ist, desto mehr sind die Menschen auf äußere Buchstaben, Worte, Computer etc. angewiesen, weil sozusagen ihre eigene „Gedankenkraft“ verlorengeht.
Die Suche nach „anderen Erkenntnisformen“ ist für mich nicht dazu da, die „Vernunft abzuschaffen“, sondern sie ist dazu da, um unsere eigenleibliche Intelligenz zu erweitern und lebensfähiger zu werden. Dieser „innere Spürsinn“ wird auch in asiatischen Meditationsübungen aktiviert, aber leider nur als „Vorstufe“ für die „höheren Zustände des Vergeistigtseins“ und nicht für eine „Verleiblichung“ oder Vitalisierung eigener Lebenskräfte. Insofern sind fast alle spirituellen Meditationstechniken von der leibphilosophischen Perspektive aus gesehen auf den gleichen Zweck ausgerichtet, wie der abendländische Vernunftglaube, nämlich auf Entleiblichungseinübung: auf „Einübung in den Tod“, wie Sokrates kurz vor seinem Tode seinen Schülern weismacht. Darum sehe ich die sogenannte „abendländische Philosophie und Wissenschaft“ in einer Art veräußerlichten Zielsetzung desselben, was für die sogenannten ebenfalls patriarchalen „östlichen Weisheitslehren“ gilt. Um Verleiblichung geht es in beiden Traditionen nicht, (die oft als „Gegensätze“ dargestellt werden), aber darum geht es im leib-philosophischen Motiv. Mythisch könnte es folgendermaßen ausgedrückt werden: es geht nicht, wie bisher, darum, daß der Geist sich vom Körper löst, sondern umgekehrt: es geht darum, daß der Geist sich ganz in den Körper einverleibt und vollständig gegenwärtig ist. Das meint das Wort „Lebendigkeit“.
Es gibt einige Philosophen, die sich ebenfalls auf dieser Spurensuche befinden. Die markantesten sind Herman Schmitz und Rudolf Steiner4, aber auch Sartre war - trotz Leibfeindlichkeit - auf diesem Weg; Friedrich Nietzsche ist in seiner letzten Phase unumwunden „Leibphilosoph“ gewesen, und auch Gernot Böhme, Ashley Montagu aund Rudolf zur Lippe suchen in dieser Richtung. Nur hat keiner von ihnen den Zusammenhang zur Geschlechtssphäre begriffen, obwohl ihnen das Wort „Leib“ geläufig ist - aber sicherlich nicht in der spezifizierten Form, wie ich es zu verwenden beginne. Atmung und Wissen
Es gibt verschiedene Varianten, unsere „Leiblichkeit“ nicht nur dreidimensional körperlich aufzufassen, sondern „durchdrungener“. Es war nun Christels Versuch, neue eigenleibliche Erkenntnis- und Heilkräfte selbst zu entwickeln und sozusagen einen „Leibsinn“ zu bewirken. Dafür nun suchten wir nach einer für sie zugänglichen Methode in Berlin. Sie kannte meine Erfahrungen mit einer Art „bewußtem Atmen“, in das ich von meiner Schwester5, die Atemlehrerin ist, auf Frauenwochenenden eingeführt wurde. Meine Schwester erlernte ihre Methoden in indianisch-schamanischer Tradition und führte mich auf meiner Suche nach philosophisch konzipierbarer „Leiblichkeit“ auf diesen „konkreteren“ Weg. So entschloß sich Christel, eine Atemtherapie zu machen. Sie schrieb darüber: „Eine Psychotherapie ist nichts für mich. Was kann ich, der Sprache und der Formulierung mächtig, einem Therapeuten alles erzählen, wie in Ordnung ich bin. Aber mein Leib, mein Atem, der wird mich nicht so leicht betrügen, der stockt an bestimmten Stellen meines Körpers, und da treffe ich auf ein Wissen, was mich weiterführen kann. Ohne meinen Leib will ich nicht mehr erkennen; meine 'rationale Vernunft‘ vermag mir keinen Weg mehr zu weisen, als freie Käuferin auf den Medizinmarkt zu gehen, um nach Abwägung statistisch errechneter Lebenserwartungstabellen Entscheidungen zu treffen, das geht bei mir nicht.“
Beim bewußten Atmen können bei einigen Personen „Bilder hochkommen“. Diese „Bilder“ sind sozusagen im „inneren Körper“ und haben eine größere Deutlichkeit als Traumbilder. Sie sind sogar dreidimensional als Ausdehnung in einer Art „innerem Raum“ spürbar. Das nun ist den meisten Menschen fremd geworden, in einer Vernunfttradition, in der es von Anfang an ein großes Verbot gab, das Bilderverbot.
„Du sollst Dir kein Bildnis machen“, dieses jüdisch/christliche Gebot dürfte bekannt sein. Es gilt auch in der Vernunftphilosophie. „Beim Denken müssen Hören und Sehen vergehen“ (Hegel). „Die reine Vernunft kommt ohne Anschauung und Erfahrung aus“ (Kant). „Gegenstand der Studien“ in der vorpatriarchalen Zeit waren nicht Bücher, sondern Gestalten, die sich angeblich in verschiedenen Bildnisformen auf der Erde verkörpern könnten. Fast alle alten Mythologien erzählen diese Geschichten. Die mächtigsten Bildnisse waren jene kleinen, schönen und häßlichen Figurinen weiblichen Körpers, die spezifische Kraftströme zur Verwirklichung von irgendwelchen Wünschen aussenden würden. Diese „Bildnisse“ nun galten als Abkömmlinge der Muttergöttinnen selber und wurden von den Menschen verehrt und angebetet.
Sie wurden in vielen Gräbern gefunden und in allen Muttertempeln. Moderne Radioniktechniker haben herausgefunden, daß bestimmte Energien über materielle Bild und Gestaltstrukturen „gefesselt“ werden können, wobei sie noch erforschen, wie das alles zusammenhängt. Aber sie experiemtierten mit „eigenartigen Figuren aus Lehm, Stein und Knochen“, die in Mexiko gefunden wurden, in keine bekannte Kultur passen und schon mehrere tausend Jahre alt sind. „Als man einige der am gräßlichsten aussehenden in die Käfige von Mäusen legte, wurden bei einigen Mäusen die Schwänze schwarz und fielen ab, andere Tiere starben nach einer Nacht mit solch einer Figur im Käfig.„6 Radioniker bauen Apparate, in denen ein gezeichnetes Bild gewünschte Kräfte sammelt und aussendet, zum Beispiel zur Schädlingsbekämpfung oder auch als „Blumendünger“. Die Struktur eines Bildes ist es, die wirksam ist, auch wenn sich das mit den bisher bekannten, üblichen naturwissenschaftlichen Methoden noch nicht erklären läßt, gibt es diesen empirischen Befund. Das Schaltschema eines Apparates kann genauso wirken wie der Apparat selber, wobei die Erzeugung der künstlich elektrischen Eigenschaft ganz außeracht gelassen werden kann. Das war eine Entdeckung der Radioniker7, die mit archaischen Materialien arbeiteten. Die Kunst besteht dann darin, das Bild zu erzeugen. Die Kunst des Visualisierens
In sehr alten Meditationstechniken, die vielleicht sogar vorpatriarchal schon verwendet wurden, gehört die Kunst des Visualisierens von „inneren Bildern“ oder auch einer „inneren Stimme“ zur Meisterschaft. Auch die Stimme des Sokrates, der sie „Daimon“ nannte, war keine vernunftgemäße „Gewissensstimme“, sondern eine, die er sich mit Meditationstechniken auf einer dadurch in bestimmter Weise sensibilisierten „Leiblichkeitsschicht“ erzeugte. „Innere Bilder“ und „innere Stimmen“, die als „Götterstimmen“ verehrt wurden, mußten durch die neu entstehende Tradition des vaterrechtlichen Logos restlos tabuisiert werden. Das Entstehen dieser „Bilder“ ist an Kräfte der eigenleiblichen Sensibilität geknüpft, die vielleicht besonders durch Frauen gelehrt wurden. Das, was aus ihrem Leibe kam, waren nicht nur Kinder, sondern auch „Götzenbilder“ und ganz andere Erkenntnisstrukturen. Bilderverbot, Leibverachtung, Frauenverachtung und Vernunftglaube gehören zusammen. Ein Denken in Bildern schürt in erheblichem Maße alle „Eigensinne“, und widersetzt sich so globalen Beherrschungsstrategien.
Christel hat diese Kraft der Bilder in sich selber aktivieren können, und das war für sie ein fast unglaubliches Ereignis. Mit ihrer ersten Atemsitzung brachen diese Bilder sozusagen aus ihr heraus. Und sie lernte, mit ihnen umzugehen, sie willentlich zu beeinflussen. Noch Paracelsus beschreibt die Heilkraft von Bildern8 und vertritt die These, daß sich in Bildern alles genausogut oder gar besser erkennen läßt als in Worten oder gar Mathematik. Christel schreibt: „Ich habe angefangen, in Bildern zu wissen. Die Atemtherapie hat mich auf den Weg gebracht. Ich entdecke ein Wissen, das sich jenseits der Welt meiner Begriffe gebildet hat. Es liegt in mir. Wenn mein Lebensatem an das Unterbewußte rührt, tritt es vor mein drittes Auge. Ich will sehen, ich habe nicht mehr viel Zeit. Welches Wissen liegt meinen zwei Augen verborgen in mir? Wie sieht mein Labyrinth aus?“
Immer wieder fiel sie in ihre rationalere Form des Erkennens zurück und bemerkte dieses sofort als Kopfschmerz. Dann ermahnte sie sich, denn es gab einen kleinen Glauben zwischen uns, daß sie vielleicht durch diese ganz andere Selbsterfahrung neue Heilkräfte erlangen könnte, und so ging es auch um Leben oder Tod, obwohl sie auch zuließ, sterben zu müssen. Sie schreibt: „Beim Nachdenken über all dies fängt mein Kopf an zu schmerzen. Mach nicht wieder eine Spekulation, sei geduldig, folge Deinen Schmerzen und Deinen Bildern, dann wirst du begreifen. Das sagt mir der Kopfschmerz. Ich breche den Gedankengang ab. Ich höre jetzt wirklich auf, denn sonst wird es wieder eine Kopfgeburt. Ich will aber in anderer Weise erkennen!“
Und nun möchte ich ein Bild aus ihren vielen Gestalten aufzeigen, wie es entstand, wie sie damit umging, wie es wieder verschwand. Es ist die Bildgestalt der sagenhaften Schlange, die in verschiedenen Mythen und auch Meditationsformen eine große Rolle spielt. Aber weder Christel noch ich wußten damals darum. Nachdem sie während des Atmens schreckliche Selbstbildnisse hatte, wandelte sich die Szenerie: „Vor mir wächst ein herbstlicher Baum mit bunten Blättern, er streicht mit seinen Blätterzweigen über meinen wunden Körper, er zieht die Nägel heraus, ich steige vom Kreuz, der Baum nimmt mich mit seinen Zweigen von hinten in die Arme. Ich fühle mich geborgen. In seinen Baumhänden vor mir hält er ein Nest mit einem Ei darin. Mein Tierchen, mein Herz? Aber das Material des Nestes verhindert, daß ich das angebotene Herz in mich hineinnehme. Aber ein Gefühl großer Geborgenheit. Der Schmerz hört auf. Aber was ist mit dem Ei?“ Die Atemtherapeutin konnte glücklicherweise auf die Bildebene eingehen und riet ihr: „Legen Sie doch das Nest mit dem Ei in Ihren Bauch, dorthin, wo der Schmerz liegt.“ Und damit begann für Christel eine Zeit, in der sie mit eigenleiblichen Kräften ihre Schmerzen lindern konnte, so sehr, daß sie bis drei Monate vor ihrem Tod keine schmerzstillenden Medikamente brauchte und annahm. Sie übte sich darin, während des bewußten Atmens, das Ei zu bewegen. Sie schreibt: „Wenn ich mich darin übe, mindert sich der Schmerz. Tröstung. Das Ei strahlt, und am zweiten Tag enthält es eine kleine Schlange, spiralenförmig im Ei geringelt.“ Nachts erwacht sie nach einem Traum. „Da zerspringt die Schale des Eies in meinem Bauch. Heraus ringelt sich eine große kräftige Schlange. Sie rollt sich in die Gestalt der Spirale. Ich bin erschrocken, wieso eigentlich soll ich erschrocken sein? Habe ich Angst? Die Schlange zwinkert mir mit ihrem einen Auge zu, ich bin es zufrieden. Später: Ich sitze am Frühstückstisch, in dem Mooshügel links kommen wieder die Schmerzen, ich schicke sie fort. Aber nein: Die Schlange geht dorthin und schickt sie fort. Dann ein warmes Strömen meine Beine hinunter, zwei Schlangen laufen in die Erde, ich bin mit der Erde verbunden.“ Nach längerer Übungszeit wird die Schlange ihr immer deutlicher spürbar: „Die Schlange in meinem Bauch ist wirklich eine Errungenschaft. Ich schicke sie an die Stellen, an denen der Schmerz beginnt. Träge, kräftig, sicher bewegt sie sich dorthin. Sie hat keine Eile. Sie hat einen starken Leib. Der bewegt sich in Windungen. Sie windet sich über die Stellen, an denen der Schmerz hochsteigt. Der Schmerz ist wie eine Ansammlung von zerbrechlich gefrorenen Eiskristalldornem, die innen hohl sind. Sie zerbröseln, wenn die Schlange sich an ihnen vorbei und über sie hinwindet. Es ist eine Lust, die kraftvollen, weichen, langsamen, sicheren Bewegungen des Tieres zu verfolgen. Ich spüre es richtig, wenn die Schlange sich in die Kurve legt und dabei wieder eine Portion Eiskristalldornen zur Seite fegt, wie sie zerbröseln. Allerdings wachsen den ganzen Tag neue. Manchmal ist der Schmerz weg, manchmal verhalten, aber er strengt mich an. In meinem Bauch findet schon auch ein Kampf statt, aber nicht zwischen zwei Lebewesen, sondern zwischen der ruhigen, kräftigen Schlange und den nachwachsenden Eiskristalldornem. Die wachsen, wie halt Eisblumen wachsen und Eiszapfen.“
Neue Erkenntnis,
neues Erleben
Für Christel war diese innere Bilderfahrung völlig neu, und es war kein Mensch in ihrer Umgebung, der oder die damit in wissender Weise hätte umgehen können. Wir waren sehr auf unsere Intuitionen angewiesen. Die Atemtherapeutin war eine Schülerin von Ilse Middendorf, die in Berlin eine Atemschule gegründet hat, und der es um den Aufbau eines „Atemleibes„9 geht. Die Menschen sollen sich dabei neu in ihrer Atemgestalt spüren lernen. Das Aufkommen von Bildern sieht sie allerdings als Nebeneffekt an, der wieder vergehen soll, so daß von dieser Richtung keine Erfahrungen vorgegeben waren. Christel fing ganz neu an zu malen und Gedichte zu schreiben, was sie seit ihrer frühen Kindheit nicht mehr getan hatte. Sie spürte eine „Begabung“ in sich wachsen, für die sie vorher keinen Sinn mehr gehabt hatte. Eine neue Erkenntnis- und Erlebensart begann sich ausgerechnet in ihrer Sterbenszeit in ihr zu regen, aber sie fühlte sich nicht reif genug, voll in dieses Neue zu setzen. Wir beide kommen aus einer „rationalen“ intellektuellen Tradition, und alles daran schien uns falsch zu sein, nur die Vorherrschaft dieser „rationalen Seite“ stand uns als „Problem“ in den Überlegungen. So schwankte sie hin und her zwischen zwei ganz verschiedenen Erkenntnisweisen und mußte dann miterleben, wie die Schlange wieder verschwand, was für sie ein großer Schmerzeinbruch war.
Eines Abends bekam sie Angst, ob die Schlange das alles schaffen würde und maß sie sozusagen mit menschlichen Kräften. Um der Schlange Ruhe zu gönnen, nahm sie eine Aspirintablette, und sofort fühlte sie sich innerlich desorientiert und verloren. „Ich weiß jetzt nicht mehr, was in meinem Bauch vorgeht. Als der Schmerz durch Aspirin verschwunden ist, habe ich Angst um die Schlange. Ich habe auch Bilder von Eiszapfen, an denen sich die Schlange den Bauch verletzt. Alles erst nach der Aspirin. Die Schlange hätte also gerne noch ein bißchen weitergemacht. Ich habe sie unterschätzt, ich habe ihre Kräfte mißachtet. Denn auch gegen Eiszapfen fällt ihr etwas ein, heißer Atem, abtauen, immer daran entlang, bis es nur noch abgeschmolzene kleine Hügelchen sind. Die Angst ist da.“ Später spürt sie dann tatsächlich, was vorher nur eine Angstbildvorstellung war. „Die Schlange ist müde geworden. Ich schicke sie trotzdem wieder aus, gegen die Eiskristalle. Ich benutze sie als Mittel zum Zwecke, zur Schmerzbeseitigung, aber nicht, weil es einfach schön ist, daß sie da ist. Die Eiszapfen zerschneiden ihr den Bauch. Es ist anstrengend für die Schlange. Ich fahre zur Havel. Die Schlange der Erkenntnis. Die Schlange ist der Schmerz. Die Schlange des Äskulap. Ich darf die Schlange nicht als Mittel benutzen wollen. Zu Hause: Ich esse Äpfel, süße und saure. Die Schlange atmet in meiner linken Seite des Mooshügels, sie ruht und atmet, ich spüre ihren Atem.“ So blieb die Schlange weiterhin wie eine stille Begleiterin ruhen, und zwar am unteren Ende des Steißbeines, zwischen Steißbein und Afterausgang, jene Stelle, an der auch angeblich die „Kundalini-Schlange“ der Yogis ihren Schlaf hält. Christel konnte sie nicht mehr erwecken. Sie weiß: „Eines aber stimmt doch, ich glaube selbst an die naturwissenschaftlich-medizinische Version meiner Krankheit, und die lautet, laß dich bestrahlen oder stirb. Ich glaube nicht daran, daß der Weg, den ich eingeschlagen habe, zur Heilung führen könnte. Mit Sicherheit werde ich bestraft dafür, daß ich gegen etwas bin, rebelliere, diesmal, gegen die Bestrahlung. Mit dem Tod wirst du es diesmal bezahlen, billiger kommst du jetzt nicht mehr weg.“
Sie erkannte als großen Mangel, ihre ganze Lebenskraft immer negativ orientiert zu haben, gegen etwas, als kritische Intellektuelle, als Kritikerin schlechthin. Ein großes, einfaches Ja für etwas hatte sie einfach nie eingeübt. Es fehlte ihr Vertrauensvermögen, wie sie meinte, eben auch Vertrauen in ihre eigene Schlangenkraft. Aber wie ein bejahendes Weltverhältnis in so kurzer Zeit aufbauen? Sie wollte sich das für ihr nächstes Leben vornehmen.
Ich aber, mit meiner Leibphilosophie, möchte es noch in diesem Leben haben. In Beziehung auf unsere eigenleiblichen Erkenntniskräfte, auch unter Berücksichtigung etwaiger brauchbarer „Vernunftdetails“, müßte eine weitere, andere Erkenntnisweise möglich werden, und diesmal würde die Frau auch ihre Leiblichkeit wiederfinden müssen, in den Bildern und Worten der Selbsterkenntnis.
Ich halte besonders die deutsche Tradition der Philosophie dafür geeignet, leibphilosophische Konzeptionen hervorzubringen, denn die spezifisch deutschsprachige Philosophie entstand nicht in den Akademien der lateinischen Vätersprachen, sondern „draußen“ im Bereich des Alltags und der unterdrückten Wissenstraditionen. Sie entstand in einem Kräutergarten der Hildegard von Bingen, an den Krankenlagern des wandernden Paracelsus, in der Schusterwerkstatt des Jakob Böhme und im alchimistischen Untergrund des Agrippa von Nettesheim. Darum gibt es in der deutschen philosophischen Sprache Begriffe, die woanders nicht vorkommen. Dazu gehören die Worte „Leib“, „Gemüt“, „Gemütsverlust“, „An-Schauung“, „Eigen-Sinn“ oder „Ein -Bildungs-Kraft. Sich etwas ein-bilden können hat ursprünglich weniger nur mit Phantasie, Illusion und Selbstüberheblichkeit zu tun als vielmehr damit, daß jemand die Kunst des inneren Visualisierens beherrscht und dadurch bestimmte Kräfte hat. Eine „An-Schauung“ haben ist nicht, eine Idee haben oder eine Weltkonzeption vertreten, sondern: es entsteht ein inneres Bild von einem Zusammenhang, das ohne Worte mit der inneren Aufmerksamkeit angeschaut werden kann. Bei Platon kommt diese Art Anschauung noch im Kratylosdialog vor, als „höchste Erkenntnisstufe“. Die „reinen Formen“, die später als Ideen aufgefaßt werden, sind geometrische Linienbilder, die er in einem bestimmten Erkenntniszustand innerlich visualisiert und anschaut. Platon betont, daß Worte hier völlig fehl am Platze wären. Frauen verteidigten die Bilder
Nun waren es in der Geschichte der Bilderstürmerei immer wieder Frauen, die die Bilder verteidigten und mit Bildern arbeiteten. In Byzanz, wo der erste große Bildersturm stattfand, ist ein erster Bilderstürmer, ein Bischof, nach seiner Tat von Frauen erschlagen worden, die dann später auf kaiserlichen Befehl umgebracht wurden10. In der Bilderverehrung blieb der weibliche Leib anbetungswürdig und auch kostbar. Die ersten großen Bilderstürme richteten sich gegen Göttinnenbildnisse, die im Christentum mit dem Bildnis der Mutter Maria Fortsetzung fanden. Luther schließlich schaffte es, Bild und Farbe gänzlich aus den Vatergotthäusern zu verbannen. Was aber das Bild erzeugt, ist „Ein-Bildungs-Kraft“, und dagegen richtet sich das Vernunftgebot. Uns Heutigen scheint es trivial zu sein, daß das Bild weniger Erkenntnisgehalt hat als die Worte der Vernunft, aber diese heutige Selbstverständlichkeit ist das Ergebnis eines langen Mentalitätswandels und Kampfes der Männervernunft gegen den Mythos der Bild-e-Kräfte in stofflicheren Dimensionen. Die vielen Millionen Frauen, die als „Hexen“ ermordet wurden, starben wegen ihrer anderen Erkenntnisart. Wenn diese nur Phantasie wäre, nur Illusion und unwirklich, dann hätten diese Frauen keine Macht haben können, die von den Patriarchen bekämpft wurde. Die Frauenmörder waren nicht einfach abergläubisch. Sie erfuhren die anderen Fähigkeiten, sie erlebten die anderen Erkenntnisweisen als faktische Bedrohung.
Das zu sehen muß uns heute sicherlich schwerfallen in einem Zeitalter, in dem die allseitige Vergeistigung in Form der technisch möglichen Selbstauflösung keine Utopie mehr ist. Der „Zivilisationsprozeß“ der letzten 3.000 Jahre hat uns unserer eigenleiblichen Feinsinne beraubt, das ist die Entdeckung, die Christel und ich gemeinsam in konkreter Form gemacht haben. Diese Einsicht ist schwer zu verkraften. Zwar wird inzwischen oft ein anderes Denken gefordert, und auch Frauen suchen in der Richtung einer „sinnlichen Vernunft“, obwohl allein dieser Begriff eine Kontradiktion ist, also ein Widerspruch in sich. Um irgendeine neue, alternative Einheit „wiederherzustellen“ reicht es ja nicht, einfach die sich widersetzenden Wörter in ein Wort zu addieren. Das „Andere“ ist nur dann etwas anderes, wenn die „Selbsterfahrung“ dabei eine andere ist. Eine neue Erkenntnistheorie muß auch durch neue Erfahrungsweisen gedeckt werden und auch da heraus entspringen. Ob wir Frauen wirklich anders denken und erkennen können als Männer, hängt davon ab, wieviel Mut wir haben, zu unseren unbekannten Erfahrungen zu stehen. Mein Weg mit Christel Neusüß ist ein Versuch, die herrschenden Denkverbote auch öffentlich zu durchbrechen, und zwar vereint mit den Vernunftkräften, die wir zusätzlich haben, die aber eben trotzdem andere bleiben.
Christel schreibt: „Die Schlange ist der Kreis, die Schlange hat sich in den Schwanz gebissen, und so atme.“
1 Welche Bewegung macht das Leben oder: Ist die Gerade die kürzeste Verbindung zwischen zwei Punkten?, taz 30.Juli 1988
2 Vergl. Gernot Böhme: Der Typ Sokrates, Frankfurt 1988
3 G.W.F.Hegel: Phänomenologie des Geistes, Kapitel über Sittlichkeit
4 Rudolf Steiner: Die Geheimwissenschaft im Umriß, Dornach 1962
5 Christina Stopczyk, Brinkweg 7, 2811 Morsum
6 Peter Tompkins/Christopher Bird: Das geheime Leben der Pflanzen, Frankfurt/Main 1977
7 William A.Tiller: Radionics, Radiesthesia and Physics, in: Symposion on the Varieties of Healing Experience 1971
8 Paracelsus, Buch über die Bildnisse, in: Der Himmel der Philosophen, Nördlingen 1988
9 Ilse Middendorf: Der erfahrbare Atem, eine Atemlehre, Paderborn 1984
10 Karl Schwarzlose: Der Bilderstreit, Amsterdam 1970, und Martin Warnke: Bildersturm, Die Zerstörung des Kunstwerks, Frankfurt/Main 1988
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