: Neuer Aufbruch in die Moderne
■ Vor kurzem ist der Band „Spurensicherung. Kunsttheoretische Nachforschungen über Max Raphael, Sergej Sergej Eisenstein, Viktor Schklowskij, Raoul Hausmann“ erschienen: Alfred Paffenholz ist der Herausgeber
Die 68er-Generation wußte sehr gut, wer Sergej Eisenstein war: Die Bedeutung des russischen Filmpioniers lernte sie beim Studium Brechts kennen, der die visionäre Kraft der Eisensteinschen Produktion (Panzerkreuzer Potemkin, 1925; Oktober, 1928) bewunderte und in ihr ein Beispiel für die eigenen Auffassungen über die Wirksamkeit des Films sah. „In Wirklichkeit braucht der Film äußere Handlung und nichts introspektiv Psychologisches“, schrieb Brecht im „Dreigroschenprozeß“ 1928, dessen soziologische Theorie den Positionen des modernen sowjetischen Films entsprach. Und auch Viktor Schklowskij war Brecht-Anhängern gut bekannt, denn von ihm übernimmt der Dramatiker des epischen Theaters den Begriff der „Verfremdung“ - das „ostranenije“ (Vermerkwürdigung) der russischen Formalisten im Kreise um Tretjakow, auf den die kongeniale Übersetzung durch den Begriff „Verfremdung“ zu
rückgeht. Und zu den damaligen Säulenheiligen einer materialistischen Kunstanschauung gesellt sich Max Raphael, dessen „Theorie des geistigen Schaffens auf marxistischer Grundlage“ 1974 im Fischer-Verlag wieder greifbar wurde und die Diskussion über das Verhältnis von Marxismus und Philosophie bestimmte.
Seitdem sind 20 Jahre vergangen und die Namen der damals Wiederentdeckten haben sich im öffentlichen Bewußtsein und in der kunsttheoretischen Diskussion wieder verloren. Das will der Band von Alfred Pappenholz ändern, er will ihre Spuren sichern: „Spurensicherung bedeutet nicht nur Erinnerungsarbeit, sondern auch und vor allem: mit dem geschärftem Blick für Geschichte sich auf die Gegenwart einzulassen und im Kulturvergleich herauszuarbeiten, was beim Aufbruch in die Gegenwart vor mehr als zwei Generationen abgebrochen, unterdrückt, verschüttet worden ist und für uns heute von
Bedeutung sein könnte“.
So wenig die naturwissenschaftliche Axiomatik der Kunsttheorie Raphaels zur Dadasophie eines Raoul Hausmann passen will, oder Eisensteins Auffassung von der Kunst als Konfliktpotential zur Verfremdungstheorie Schklowskijs: das ungewohnte Denken, das Interesse am Film, das Arbeiten mit neuen Materialien und die Erprobung bisher unbekannter Techniken (Montage, Collage) eint die vier Autoren. Sie arbeiten mit am Aufbruch in die Moderne. Die alten Inhalte treten zurück, Theorien und Methoden werden zum Problem der Kunst-und Literaturproduktion. Die Werkstätten Picassos und Braques, die Arbeiterbühnen und Filmstudios, die Vorlesungssäle und Galerien, in denen über die Sprachwissenschaft eines Courtenay oder den Futurismus eines Majakowskij diskutiert wird, sind die Aufenthaltsorte der Intellektuellen, die sich der Gegenwartskunst verschrieben haben:
„Weimar existiert nicht mehr, es ist an seiner Stelle nur mehr ein Riesenphonographenwalzenlager für Aussprüche von Schiller und Goethe“ (Hausmann).
Und auch ihr Außenseiterschicksal eint sie: Raphael lebt im französischen Exil und lernt die Lager von Gurs und Les Milles kennen, bevor er nach New York emigriert; Hausmann flüchtet nach Spanien und versteckt sich später in Frankreich, wo er den Krieg überlebt; Schklowskij arbeitet bis 1923 als Emigrant in Berlin: „Wir sind Flüchtlinge, nein, nicht einmal das: Entflohene, die sich jetzt im Sitzen üben. Einstweilen“. Nur Eisenstein bleibt unbehelligt von den stalinistischen Säuberungen, und es stellt sich die Frage: Wie ist der Revolutionär des Films durch diese keineswegs revolutionäre Zeit gekommen?
Am Beispiel von vier Autoren wird ein paradigmatisches Bild von der Lebendigkeit der kunsttheoretischen Diskussion der
20er und 30er Jahre in Berlin und Petersburg, Moskau und Wien entworfen, der Kampf um das neue Medium Film und die neue Literatur beschrieben, wobei Berlin als das heimliche Zentrum aller dieser kunstrevolutionären Bewegungen erscheint: Max Raphael lehrt an der Marxistischen Arbeiterschule, Eisenstein hält Vorträge, Schklowskij schreibt hier seine Autobiographie „Die sentimentale Reise“ und Hausmann war die organisierende Mitte von Dada-Berlin.
Die Autoren der vier Essays (Hans-Jürgen Heinrichs, Ralf Schnell, Alexander Schmidt, Michael Erlhoff) lieben ihren Gegenstand. Sie schreiben mit Kenntnis (jeder Essay enthält eine Bibliographie der Primär-und Sekundärliteratur), Einsicht und Lust und das ist gut für den Stil: Er nimmt den Leser gefangen und macht Appetit auf mehr.
Joachim Dyck
Alfred Paffenholz (Hg.), Spurensicherung 1, Hamburg 1988
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen