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Ins Nebelhorn getutet-betr.: "Sind Don Quijote und Sancho realer als Cervantes?", taz vom 3.12.88

betr.: „Sind Don Quijote und Sancho realer als Cervantes?“, taz vom 3.12.88

(...) Der „Nebel der Langeweile“ ist in dem Roman nur eine Assoziation unter anderen, die alle um das Wort niebla kreisen. So ist vom Nebel des Lebens oder der Existenz die Rede, wie auch vom Nebel der Schöpfung (aus dem, Augusto zufolge, die Liebe ihr Objekt, Eugenia, herausholt). Und Victor, der Romanautor im Roman, empfiehlt Augusto, Fiktion und Realität in ein und demselben Nebel durcheinanderzuwirbeln.

Das heißt, Nebel ist in Unamunos Text kein Hindernis, nicht das, was den Blick verstellt, oder das, was die Umwelt als Labyrinth erscheinen lassen kann; vielmehr ist er die Vorgabe, durch die Entwicklung, existentiell wie literarisch, erst möglich wird: eine atmosphärische Grundbedingung, ja ein Grundaggregatszustand des (realen oder fiktiven) menschlichen Seins.

Die traditionelle Bedeutung des Unklaren, Verwirrenden wird positiv „umgepolt“: Nebel enthält nicht nur potentiell die Klärung, ja die Vervollkommnung in sich, sondern ist für die bewußte Existenz, für das Schaffen des Autors oder der fiktiven Person unabdingbar. Die neue, aktiv-produktive Bedeutung des Wortes wird dabei Victor zugeordnet, die traditionelle, eher rezeptiv-reflexive Bedeutung seinem Freund Augusto.

Eine phonetische Assoziation steckt in dem Wortpaar „niebla -nivola“ (dies die Bezeichnung Victors für die von ihm erfundene Gattung, in der die Grenze zwischen Roman und philosophischem Werk verwischt wird). In der Tat ist, wie K.Heering schreibt, das Wort „nivola“ nicht übersetzbar - es sei denn, man weicht von der adäquaten Übertragung „Roman“ für „novela“ ab; dann sind Bildungen wie „Nevolle“ (oder auch „Nevelle“) denkbar, wodurch ja die Wortassoziation mit Nebel gewahrt bliebe. Übrigens ist der Einfall, den Victor unmittelbar vor „nivola“ hat, ja „nebulo“ („nebuloso“ ist das Wort für neblig/wolkig/nebulös, „nebulosa“ das für Nebelfleck - mit diesem setzt aber Augusto einmal das Leben metaphorisch ineins).

Hinzu kommt, daß bei der Übersetzung ins Deutsche (im Unterschied zum Spanischen) das Buchstabenspiel „Nebel“ und (rückwärts gelesen) „Leben“ genutzt werden kann. Und wenn man das spanische Wort „Existencia“ rückwärts schreibt, kommt ein Wort heraus, das geradezu baskisch aussieht: „Aicnetsixe“ - Unamuno stammte aus dem Baskenland...

Sehn wir uns nicht in diesem Nebel

dann sehn wir uns in Dlefeleib

Ins Nebelhorn tutet

Jürgen Sieß, Bielefeld

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