: Scheibengericht: Heiner Goebbels, Heiner Müller / Dagar Brothers / R.A.M. Pietsch / Jessye Norman / Cardiacs Live / Reinhard Febel / Heinrich Ignaz, Franz Biber / Randy Newman / Franz Schubert / Modern String Quartett / Wrong Stereotype
MONTAG, 12/12/8815 oHEINER GOEBBELS / HEINER MÜLLER
Der Mann im Fahrstuhl / The Man In The Elevator. ECM 1369
Mit hölzerner, gleichgültig betonender Stimme erzählt Heiner Müller, sonor und nervös-expressiv in Rocksongs und portugiesisch in brasilianischen Liedern Arto Lindsay. Alle erzählen sie die gleiche Geschichte, ineinander verschachtelt, übereinander verschoben, ein viertes Mal erzählt sie Heiner Goebbels musikalisch, unabhängig, unmittelbar, oft unerklärlich: die Geschichte vom Mann im Fahrstuhl (aus dem Müller-Stück Der Auftrag), dem vor lauter Schlips-Problemen die Nummer der Chefetage entfällt und die Zeit davonrennt, der, weil er nicht pünktlich sein kann, aufgibt, den Fahrstuhl verläßt und sich auf einer peruanischen Dorfstraße wiederfindet. Dort fühlt er sich von zwei Männern bedroht, doch die ignorieren ihn. Eine Frau, die er begehrt (und sie ihn), läßt ihn stehen, weil er sie einem anderen Mann zugehörig wähnt. Heiner Goebbels hat aus den verschiedenen Tonfällen und unterschiedlichen Musikstilen ein polyphones Hörstück geformt, dessen Attraktivität tückisch ist. Die suggestive Wirkung bleibt einem im Kopf und ist umtriebig. Geheuer ist das nicht. Mit Heiner Goebbels spielen auch Do Cherry, Fred Frith, Charles Hayward, George Lewis und Ned Rothenberg. oDAGAR BROTHERS
Raga Miyan ki Todi. Jeckli-Disco CD JD 628-2
„In welcher Selbsttäuschung bist du gefangen, o mein kluger Verstand, der alles weiß über die Ragas, die Worte, ihre Bedeutung und die Feinheiten der Sprache. Zu tief ist dieses Wissen, unfaßbar und unerreicht für den Verstand - es sei denn durch Gnade“, so lautet der Text des Dhrupads. Dem beuge ich mich. Nasir Zahiruddin und Nasir Faiyazuddin Dagar, deren Vorfahren schon im 16.Jahrhundert Dhrupad sangen, singen - soweit ich das beurteilen kann - äußerst feinfühlig den ersten Teil, Alap, in dem der Raga erschaffen, also Schritt für Schritt ertastet und ausgelotet wird, um dann im Dhrupad mit Pakhavaj-Begleitung (querliegendes, dumpfes Schlaginstrument) präzis die weisen Worte zu artikulieren. Das ist eine religiöse Musik, deren langer Entwicklungsprozeß die meditative Konzentration ermöglicht, die zur göttlichen Ekstase führt. Aber nur für den Begnadeten. Doch zuhören darf man. oR.A.M. PIETSCH
Norwegian Wood. SPV Records 09-8806
R.A.M. Pietsch hat Beatles-Songs zu einem Kitsch-Oratorium arrangiert. Wahrscheinlich hält er uns für senile Beatles -Fans, die dabei verzückt ihren verfetteten Hintern schwenken. Die Münchner Philharmoniker müssen die erbärmlichsten Floskeln herunterfiedeln und die Melodien pastos auftragen. Ian Cussick und Dan McCafferty haben die Gesangsphrasen nicht unter Kontrolle. Die harmonischen Vereinfachungen sind durch nichts zu rechtfertigen. Es gibt horrende Peinlichkeiten wie die spaßig gemeinte, pädagogische Aufbereitung von Piggies am Musikcomputer und den Versuch, Revolver zum Weihnachtslied umzugestalten. Unsäglich auch der ökologische Programmtext von Michael Kunze, der die obskure Collage zusammenbinden soll. Und Klaus Voormann hat das Ganze mitproduziert! Ist denn auf niemanden Verlaß? oJESSYE NORMAN
Live. Geoffrey Parsons, piano. Philips CD 422235-2
Jessye Norman zu preisen ist überflüssig. Jeder macht das, und niemand hat Grund zu widersprechen. Auf dieser CD sind Live-Aufnahmen der Europa-Tournee vom November 1987 mit der Cantata aus Haydns Arianna a Naxos, Lascia ch'io pianga aus Händels Rinaldo, Lieder von Mahler, Berg und Strauss. Zwei Spirituals und Ravels Vocalise-Etude (en forme de Habanera). Jedes einzelnde Stück ist beeindruckend, die Abfolge der Stücke aber ist ermüdend. Die Programmdramaturgie hat die Ökonomie des Hörens vernachlässigt. So ist es besser, von dieser CD etwas zu pflücken, als sie von Anfang bis Ende durchzuhören. Auch finde ich den penetranten Beifall, der jedes Stück einrahmt, störend. oCARDIACS LIVE.
Recorded Live at the „Paradiso“, Amsterdam, Niederlande. Torso 3301001 / EfA 08-14249
Der Konzertmitschnitt ging ungemischt auf Cassette. Und das hört man. Der Klang der Wurlitzer-Orgel ist zu dick und die Stimme von Tim Smith oft zu weit hinten. Cardiacs machen witzige neue Popmusik und sind eine wohltuende Alternative zu diesen öd-dilettantischen Gitarrenpoppern, die im Moment massenhaft auf den Markt kommen. Cardiacs wechseln virtuos Metren und Rhythmen, können wenig instrumentieren und ihre überraschenden Einfälle in effektvolle, oft irrwitzige Kombinationen verstricken. Nicht alles ist auf diesem Niveau. Mir gefallen die Stücke Gina Lollobrigida, There's too many irons in the fire und Tarred and Feathered. Von der Sorte hätte ich gern mehr. oREINHARD FEBEL:
Variationen für Orchester / Das Unendliche / 1.Streichquartett. Rundfunk-Sinfonieorchester Saarbrücken, Michael Zilm / Radio-Sinfonieorchester Stuttgart, Jacques Mercier / Arditti-String-Quartet. Wergo CD 60502-50
Der Deutsche Musikrat hat wieder eine Edition zeitgenössische Musik ausgeworfen, diesmal keinen repräsentativen Querschnitt, sondern die repräsentative Beschränkung auf einen Komponistenkreis, der der Moderne abgeschworen hat: Ulrich Leyendecker, Wolfgang von Schweinitz, Detlev Müller-Siemens, Anton Plate und eben Reinhard Febel. „Postmodern“, so heißt es im Plattenbeiheft, „so lautet die einleuchtende These Ecos, sei der moderne Name für Manierismus als eine metahistorische Kategorie. Diesem Kunstwollen entspricht die Faktur von Reinhard Febels Kompositionen.“ Was kommt heraus, wenn man Stilmittel von Richard Strauss, Gesualdo und Ibanez miteinander in Einklang bringt? In Febels Variationen für Orchester (1980) kann man das nachhören. Es geht nicht darum, daß da Materialien verschiedener Epochen gemischt werden, sondern wie sie zueinanderkommen. Die historischen Stile hatten ihre gewachsene Bedeutung, und sie tragen ihre Geschichte bis heute mit sich. Der 1952 geborene Reinhard Febel ignoriert diese Geschichte, und deshalb kann seine Musik auch nicht „zeitgenössisch“ sein. Sie teilt nichts Zeitgenössisches mit, sondern Kadenzen aus Leihmaterial. Warum der Ländler im Streichquartett, dessen Reprise von einer Repetitionsbewegung überwuchert wird? Sieche Landwirtschaft? EG? Ach was. Es ist Reinhard Febels Versuch, „mit neuartigen Zeitproportionen zu experimentieren“. Steht da. oHEINRICH IGNAZ FRANZ BIBER
Mensa Sonora / Sonata Representativa. Musica Antiqua Köln, Reinhard Goebel. Polydor / Archiv Produktion CD 423701-2.
Wahrscheinlich war Biber ein ehrgeiziger, selbstbewußter Karrieretyp. 1644 im böhmischen Wartenburg geboren, ist er bis 1670 Bratscher beim Fürstbischof von Olmütz. Dann „entweicht“ er nach Salzburg, wo er 1673 am Hofe des Fürsterzbischofs musiziert, 1679 zum Vizekapellmeister aufsteigt, 1684 zum Kapellmeister und Truchseß. Investiert hatte er dafür kompositorischen Fleiß. Vier Drucksammlungen widmete er dem Erzbischof und den handschriftlichen Zyklus der Mysteriensonaten. Seinen Kollegen Georg Muffat hatte er damit so weit ins Abseits gestellt, daß der schließlich gehen mußte. Und als Johann Heinrich Schmelzer geadelt wurde, sieht er sein neues Ziel: Nach mehreren Anläufen erhält er endlich 1690 aufgrund von „Ehrbarkeit, Redlichkeit, adeligen guten Sitten, Tugend und Vernunft“ das Adelspatent und heißt von Bibern. Zehn Jahre vorher hatte er die Klingende Taffel/oder Instrumentalische Taffel-Music mit frisch-lautenden Geigenklang komponiert, sechs Kammersonaten für vier Streicher und Cembalo, das von Thierry Maeder alternierend mit dem Orgelpositiv gespielt wird. Daß Biber damit hinter den qualitativen Stand seiner anderen Arbeiten zurückfällt, hat seinen Grund: Es handelt sich um - heute sagen wir - funktionale Musik, um Hintergrundmusik. Was Biber unter dieser Vorgabe dennoch an Eleganz, Raffinesse und Klarheit bewahrt hat, ist erstaunlich. Wer mit halbem Ohr hinhört, wird gut unterhalten, wer mit beiden Ohren, wird nicht enttäuscht. Mitten rein in die Mensa sonora haben die Kölner Musiker eine von Bibers Programmusiken gesetzt, die Sonata violino solo representativa A-Dur, eine tierische Geschichte mit Instrumentalimitationen von Nachtigall, Kuckuck, Frosch, Henne, Hahn, Wachtel, Katze und einem Musketier-Marsch. Die Musica Antiqua hat das Ganze tadellos gespielt. oRANDY NEWMAN:
Land of Dreams. WEA 925773-1
Kein zynisch klärendes Rollenspiel diesmal, sondern Kindheitserinnerungen. Sachliche Erzählungen, bedeutsame Erlebnisse, genaue Beobachtungen. Schließlich das Fazit: „It's money that matters in the USA.“ Kompositorische Experimente gibt es bei Randy Newman nicht. Aber das, was man von ihm kennt, ist jetzt noch ausgefeilter als zuvor. Die Stücke sind hervorragend arrangiert und produziert. Drei Produzenten haben sich die Arbeit aufgeteilt: Mark Knopfler, James Newton Howard (mit Tommy LiPuma) und Jeff Lynne. „I like that ELO“, sang spöttisch Randy Newman vor vielen Jahren. oFRANZ SCHUBERT:
Sinfonie C-Dur, Nr.9. Orchestra of the Age of Enlightenment, Sir Charles Mackerras. Virgin Classics CD VC 258913-231
1826 konnte Schubert endlich mal wieder eine Sinfonie, die neunte, fertigkomponieren. 1828 stirbt er. Die 1830er Jahre, lese ich, brachten rasche Wandlungen in der Instrumententechnik. Gegen Ende dieses Jahrzehnts waren Ventilhörer und frühe Boehm-Flöten in Umlauf, und die Violonisten verwendeten bereits Kinnhalter, um den brillanten Klang und die Sicherheit des Spiels zu verbessern. Damit kontrastiert der grundsätzlich noch am Orchester des 18.Jahrhunderts orientierte Klang, den Schubert bei der Komposition im Ohr hatte. Das „Orchestra of the Age of Enlightenment“ hat sich mit authentischen und nachgebauten Instrumenten dem Klang im Schubert-Ohr angenähert. Die neuen alten Instrumente lassen stärkere Kontraste zu, wärmere Klangfarben und schärfere Tuttischläge, auch deutlicher abgesetzte Soli. Ich weiß allerdings nicht, ob das Einfluß auf die Interpretation hatte. Die ist hervorragend: Klarheit und Sicherheit in allen Teilen, entschiedene und sorgfältig gestaltete Übergänge, ein federnder zweiter Satz mit den blitzartigen Tuttieinschlägen, das tänzerisch-virtuose Scherzo und das schnell galoppierende Finale. Schlüssig und spannend. oMODERN STRING QUARTETT:
Jazz für Streichquartett. Mood Rec. 28665
Konstantin Wecker, der das Quartett mit auf Tournee nahm, behauptete, dessen Kunst fehle nie das Augenzwinkern. Das muß man ihm verzeihen. Denn es fehlt ihm etwas anderes, das Feeling, das Gefühl für die Stimmigkeit einer Phrase, der Tongebung, selbst der Pause. Der Jazz lebt davon. Ernüchternd wirken die Adaptionen von Miles Davis‘ All Blues und von Dizzy Gillespies Night in Tunesia. Das, worauf es ankommt, kommt nicht vor. Das, was übriggeblieben ist, ist der abgelutschte Gestus, beeinträchtigt von Unsauberkeiten, für die der Begriff der „Dirty Notes“ nicht stehen kann. In den eigenen Kompositionen fällt der Hang zur sentimentalen Salonmusik auf und die Nähe zu Helmut Zacharias (Ballata con Fuga). Das letzte Stück der Platte ist der erste Kontrapunkt aus Bachs Kunst der Fuge. Jazz für Streichquartett? Nein, der Kontrapunkt ist nicht verjazzt. Er ist nur lässig gespielt - also keine Kunst der Fuge. oOOPS! WRONG STEREOTYPE.
An Alternative Tentacles Compilation Alternative Tentacles Rec. Virus 68. EfA 02-17601
Auf dem Album sind Stücke von Gruppen versammelt, die mit Text und Musik mehr oder weniger politisch Stellung nehmen. Aber nichts Peinliches. Die Musik ist aggressiv, der Schönklang ist erfolgreich vermieden, die Texte sind spielerisch witzig und anstößig. Das Heavy Metal Werk Never again, again von False Prophets, Pre-War America von The Beatnigs, Tragic Mulattos OK Baby und Christian Lunchs Neighborhood Watch mit all den Maschinengewehr-Albträumen liegen da beieinander und eine fast zwölfminütige, furiose Rede über das amerikanische Politikverständnis von Jello Biafra: Love American Death Squad Style. Das erspart einem Wähleranalysen. o
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