: Klassen, Politik, Sprache
■ Gareth Stedman Jones auf dem Weg zu einem diskursiven Klassenbegriff
Thomas Lindenberger
Auch in den historischen Debatten unserer Tage ist der Begriff „Klasse“ beziehungsweise „Arbeiterklasse“ seit dem „Abschied vom Proletariat“ selten geworden. Das Verhältnis zwischen (objektiver) „Klassenlage“ und (subjektivem) „Klassenbewußtsein“ beschäftigte noch vor zehn Jahren eine ganze Generation kritischer Sozialwissenschaftler. Die beharrliche Weigerung der Lohnabhängigen im Kapitalismus unserer Tage, den theoretisch vorgesehenen Königsweg der „Klasse an sich“ zur „Klasse für sich“ zu beschreiten, führte zu einer gewissen Entwertung dieses Klassenbegriffs. Mittlerweile gehört es fast schon zum guten Ton, den Klassenwiderspruch als einen neben anderen sozialen Widersprüchen zu betrachten.
Anders hingegen in Großbritannien, wie der kürzlich unter dem programmatischen Titel Klassen, Politik und Sprache. Für eine theorieorientierte Sozialgeschichte erschienene Aufsatzband des Oxford-Professors und History-Workshop -Redakteurs Gareth Stedman Jones demonstriert.
Die Fortschritte auf dem Weg zur Überwindung des orthodox -marxistischen Ökonomismus, wie sie im westeuropäischen Marxismus und vor allem in Großbritannien mit dem Werk von Edward P.Thompson schon vor zwei Jahrzehnten erreicht wurden, blieben bei uns lange Zeit weitgehend unbemerkt. In Thompsons Klassiker über die Entstehung der englischen Arbeiterklasse steht der Begriff der Erfahrung als Vermittlung zwischen „sozialem Sein“ und „Bewußtsein“ im Mittelpunkt 1. Nicht die materiellen Bedingungen per se, sondern nur ihre (subjektive) Verarbeitung durch konkrete Menschen können zu einem spezifischen Bewußtsein führen, das eine politisch und kulturell „präsente“ Arbeiterklasse auszeichnet. In der angelsächsischen Sozialgeschichtsforschung blieb dieser betont empirisch orientierte Ansatz zumindest im linken Spektrum lange Zeit unangefochten maßstabsetzend.
Erst in den letzten Jahren hat eine jüngere, u.a. durch den französischen Philosophen Althusser beeinflußte Generation von Historikern - unter ihnen Stedman Jones - grundsätzliche Einwände gegen das Erfahrungskonzept in der Geschichtsschreibung der Arbeiterklasse vorgebracht.
Über diese politischen und wissenschaftsgeschichtlichen Entwicklungen der englischen Sozialgeschichtsforschung informiert der Herausgeber Peter Schöttler in seiner Einleitung; eine Eröffnung, die zusammen mit dem ausführlichen Interview mit Stedman Jones und einer vollständigen Bibliographie seiner bisherigen Veröffentlichungen am Ende des Bandes einen äußerst nützlichen Rahmen von Hintergrundinformationen abgibt.
Da ist von den theoretischen und politischen Entwicklungen in der Neuen Linken Englands seit den sechziger Jahren die Rede, ebenso wie von den history workshops, jener von Gewerkschaftsaktivisten getragenen außerakademischen Geschichtsbewegung, bei denen sich unsere deutschen Geschichtswerkstätten den Namen abgeguckt haben. Allein diese beiden Beiträge sind auch für die Wenigen, die Stedman Jones‘ Arbeiten schon im englischen Original gelesen haben sollten, von hohem Informationswert.
Die gründliche Auseinandersetzung mit Althusser ist vor allem dem Beitrag über Friedrich Engels‘ Stellung in der Geschichte des Marxismus anzumerken. Er untersucht Engels Beeinflussung durch frühsozialistische Utopien (Owen, Fourier) und seine späteren, scheinbar konträr dazu stehenden Rückgriffe auf die Hegelsche Dialektik in Grundsatzfragen des sich herausbildenden Marxismus.
In einer ausführlichen Besprechung des Buches seines Kollegen John Foster, Industrielle Revolution und Klassenkampf, entwickelt er erstmals ausführlich seine Kritik an der „sozialen Interpretation“ von „Klassenbewußtsein“, wie er sie bei Foster an den Leninschen Kategorien der „Arbeiteraristokratie“ und des „trade -unionistischen“ Bewußtseins festmacht.
Das Kernstück des Bandes jedoch bildet die knapp 100seitige Untersuchung Sprache und Politik des Chartismus. Der Chartismus galt bislang als die historisch erste, von Klassenbewußtsein getragene Volksbewegung, deren Programm im wesentlichen die Einführung eines allgemeinen, besitzunabhängigen (Männer-) Wahlrechts forderte.
Seit Friedrich Engels‘ Studie über die „Lage der arbeitenden Klasse in England“ wurde die politische Losung der „Charter“ als direkter „Ausdruck“ ökonomischer Interessen bzw. der dazugehörigen sozialen Erfahrungen englischer Arbeiter interpretiert. Das angestrebte allgemeine Wahlrecht sollte demnach unmittelbar zugunsten der Arbeiterklasse und der Verbesserung ihrer Lage eingesetzt werden. Der Niedergang des Chartismus seit den 40er Jahren des 19.Jahrhunderts war, dieser Logik folgend, in erster Linie auf eine durch den Beginn einer Prosperitätsphase eingeleitete allmähliche Verbesserung des Lebensstandards der Arbeiter zurückzuführen. Was dann folgte, war die verhältnismäßig friedfertige, in die viktorianische Gesellschaft integrierte Arbeiterklasse.
Stedman Jones interpretiert die programmatischen Äußerungen der Chartisten völlig neu. Anhand einer minutiösen Lektüre der einschlägigen Texte, die auch in der bisherigen Forschung als Belege herangezogen wurden, begründet er eine anders geartete Erklärung für den Verlauf dieser Arbeiterbewegung.
Er hebt vor allem auf die Herkunft der chartistischen Sprache und Rhetorik aus den plebejischen und antiabsolutistischen Volksbewegungen des ausgehenden 18.Jahrhunderts ab. Die zentralen Gegensätze in diesem Diskurs waren nicht Klassengegensätze, sondern die zwischen entrechteten Volksmassen (ob Landarbeiter, Handwerker oder Unternehmer) und einem korrupten Establishment (Kirche, Landadel, Hof, Beamtentum) und den dazugehörenden Postenjägern und Günstlingen. Die Repräsentation aller im House of Commons sollte diese Vorherrschaft von Betrügern und Privilegierten auf konstitutionellem Weg beseitigen.
An dieser Grundidee und ihren Voraussetzungen änderte sich nichts, als durch die Ausweitung des Wahlrechts auf die bürgerlichen und kleinbürgerlichen Schichten ab 1832 die Arbeiterklasse plötzlich mit der Forderung nach dem allgemeinen Wahlrecht allein dastand.
Der Chartismus entstand zwar damit als eine politische Bewegung, der in erster Linie Arbeiter zuströmten, als seinen Gegner sah er jedoch keinesfalls - im Sinne eines „Klassenkampfes“ - den Kapitalismus oder die Unternehmer, sondern vielmehr den nach wie vor den korrupten, Partikularinteressen unterworfenen Staat und seine Parasiten an. Und darin lag - nach Stedman Jones - auch seine spätere Schwäche in den 40er Jahren, die sein schnelles Verschwinden, begründet:
Nicht die Prosperitätsphase führte zu einem „appeasement“ der Arbeiter, sondern politische Veränderungen in der staatlichen Politik selbst: Abschaffung der Kornzölle und allmähliche Senkung der Kunsumsteuern, die ernsthaften Bemühungen der Staatsregierung um eine Politik jenseits partikularer wirtschaftlicher Interessen - das höhlte die Schlagkraft der chartistischen Sprache aus.
„Wenn man die Sprache des Chartismus untersucht, so erweist sich, daß sein Aufstieg und sein Scheitern in erster Linie nicht auf ökonomische Entwicklungen, eine Spaltung der Bewegung oder unreifes Klassenbewußtsein zurückzuführen sind, sondern mit dem gewandelten Charakter der staatlichen Politik zusammenhängen - also des wichtigsten Gegners, von dessen Aktionen die Radikalen ihre Glaubwürdigkeit stets abhängig gemacht hatten.“ (218)
Für sich genommen mag einem dieses Untersuchungsergebnis nicht so spektakulär vorkommen. Im Kontext einer seit einigen Jahren virulenten Methoden- und Theoriediskussion unter den englischen SozialhistorikerInnen gewinnt es an Brisanz. Stedman Jones‘ Ansatz, auf der „Oberfläche“ der chartistischen Texte nach Erklärungsmöglichkeiten für die Erfolge und Mißerfolge dieser Arbeiterbewegung zu suchen, stellt nicht nur den dem Altmeister Thompson verpflichteten Erfahrungsansatz grundsätzlich in Frage.
Er stellt auch eine Herausforderung an das theoretische Selbstverständnis seines Fachs dar, das in der Regel zwischen zwei Extremen hin- und herpendelt: Entweder begnügen sich SozialhistorikerInnen mit einigen wenigen, relativ „weichen“ sozialwissenschaftlichen Kategorien, um sich in der empirischen Untersuchung nicht allzusehr behindern zu lassen (etwa die Arbeitergeschichtsschreibung in der Nachfolge von Thompson), oder sie machen Anleihen bei stärker theoretisch ausgerichteten Sozialwissenschaften, insbesondere der Soziologie.
Letzeres allerdings in der Regel ohne diese Konzepte selbst auf ihre Brauchbarkeit im historischen Feld zu überprüfen, ja ohne die Grundannahmen der Disziplin, der sie entnommen sind, kritisch zu hinterfragen. Stedman Jones beleuchtet dieses ungleiche Verhältnis zwischen Geschichtswissenschaft und Sozialwissenschaften in den beiden ersten Beiträgen, einmal auf einer allgemeinen Ebene („Von der historischen Soziologie zur theorieorientierten Geschichtswissenschaft“), zum anderen anhand des Umgangs mit dem in der „Sozialgeschichte der Freizeit“ besonders beliebten Terminus der „Sozialen Kontrolle“.
Seine in der Chartismus-Untersuchung beschrittene Methode hingegen resultiert aus einer eigenständigen Verarbeitung von Diskurstheorien französischer Provenienz (v.a. Althusser), wobei er deren theoretischen Rigorismus sowohl in der Kritik bisheriger Chartismus-Forschung als auch in der eigenen Untersuchung zu vermeiden sucht.
Dadurch fehlt diesem Aufsatz die begriffliche Schärfe, um die theoretischen Implikationen seiner diskursanalytischen Betrachtungsweise deutlich zu machen. Diesen Mangel an begrifflicher Präzision hat Stedman Jones jedoch - wie er in dem Interview hervorhebt - bewußt in Kauf genommen, um die Provokation seiner Neuinterpretation nicht durch einen Historikern weitgehend fremden Begriffsapparat abzuschwächen - und die breite, lebhafte Kontroversen auslösenden Reaktionen seiner KollegInnen haben ihm da durchaus recht gegeben.
Als Ziel für seine zukünftigen Forschungen nennt er die Entwicklung eines „diskursiven Klassenbegriffs“, der die Veränderungen sozialer Identitäten (z.B. „Klassenbewußtsein“) nicht lediglich als Reflex sozioökonomischer Prozesse (und sei es auf dem Weg der Thompsonschen „Erfahrung“) beschreibt. Es geht ihm mit diesem neu zu formulierenden Klassenbegriff vielmehr darum, sich den Grundvoraussetzungen jeglichen Bewußtseins, nämlich der „Verknüpfung zwischen Subjektivität, Sprache und Diskurs“ (311) unter Rückgriff auf die Theorien Lacans zuzuwenden.
Auch wenn der Weg zu einer derartigen Neuschreibung von Klassengeschichte noch weit ist - in Zeiten, wo landauf, landab Sozialgeschichte zu volkskundlichen Ausstellungen über die „Geschichte der Unterwäsche“ oder die „Geschichte des Schnürsenkels“ und dergleichen zu verflachen droht, stellen Gareth Stedman Jones‘ Arbeiten eine fruchtbare Anregung nicht nur für eine theorieorientierte, sondern auch im doppelten Sinne politische Sozialgeschichte dar.
(1) Edward P.Thompson, Die Entstehung der englischen Arbeiterklasse. Frankfurt/M. 1987
Gareth Stedman Jones: Klassen, Politik und Sprache. Für eine theorieorientierte Sozialgeschichte, hrsg. und eingel. von Peter Schötter, übersetzt von Barbara Hahn, Gabi Mischkowski und Peter Schöttler, Verlag Westfälisches Dampfboot, 323 Seiten, 48 Mark
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen